„Wir wollen Frieden auf der Erde“, singt der Mädchenchor der privaten zweisprachigen Schule in Goslawitz/Goslawice zur Begrüßung des Reporters. „Goslowiki“ heißt der Chor, der Name nimmt Bezug auf den Ortsnamen und auf das polnische Wort „slowik“, das Nachtigall bedeutet. Die „Nachtigallen“ sind das Aushängeschild der Schule in Goslawitz, und sie wiederum ist ein Hoffnungsträger der deutschen Minderheit in Oberschlesien, denn derartige Bildungseinrichtungen lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen.
„Bei uns gibt es sechs Stunden Unterricht in Deutsch als Sprache, und auch in den übrigen Stunden versuchen wir, das Deutsche im Unterricht immer im Bewusstsein zu behalten“, erläutert Martina Osuchowski, die Vorsitzende des Vereins Kreativer Bildung, des Trägers der Einrichtung. Das ist nicht zu übersehen: An den Treppenstufen, auf den Wänden, in den Regalen mit dem Lehrmaterial – überall sind deutsche Wörter und ihre polnischen Entsprechungen zu sehen. 55 Kinder werden im Kindergarten an die deutsche Sprache herangeführt, 92 Schülerinnen und Schüler besuchen die achtklassige Grundschule, in der in beiden Sprachen gelernt wird.
Der überwiegende Teil der Kinder hat kaum Deutsch gelernt in der Familie. Das hat einen triftigen Grund: Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als dem Rassenwahn der Nazis, der im Holocaust an den Juden und in massenhaften Gräueltaten an Polen, anderen Nationalitäten und Andersdenkenden kulminiert war, endlich ein Ende gesetzt war, flohen Millionen Deutsche aus ihrer Heimat oder wurden vertrieben, und unter dem folgenden kommunistischen Regime war dann alles Deutsche verboten. Wie es die Faschisten in Südtirol vorgemacht hatten, wurden sogar Namen polonisiert; nicht einmal vor Grabsteinen schreckte man zurück. Zwei Generationen der Minderheit wuchsen so ohne die deutsche Sprache auf. „Aber die Leute haben trotzdem noch eine deutsche Identität“, betont Bernard Gaida, der langjährige Vorsitzender des Verbandes der deutschen sozial-kulturellen Gesellschaften in Polen, des Dachverbandes der deutschen Minderheit.
Das staatliche Bildungssystem ist kaum eine Hilfe: Drei Stunden Deutsch werden in seinen Schulen gelehrt, sofern genügend Eltern einen entsprechenden Antrag stellen. Dieser Unterricht findet allerdings zusätzlich zum normalen Stundenplan statt und deshalb auch in Randstunden, wenn die anderen Schüler schon frei haben. Entsprechend mäßig ist der Lernerfolg. Nach der Grundschule gibt es im öffentlichen Schulwesen praktisch keinen Deutschunterricht mehr.
„Auch jene Eltern, die selbst nicht mehr Deutsch können, wollen oft, dass ihre Kinder die Sprache lernen“, erklärt Martina Osuchowski. Diesen Wunsch versucht ihre Schule auf besondere Weise zu verwirklichen: Hier wird die deutsche Sprache in allen Fächern verwendet.
Dabei gibt es nicht wenige Schwierigkeiten. Sie beginnen schon bei den Lehrern. In Polen gibt es keine Lehrerausbildung in den Minderheitensprachen. „Nicht alle unsere 25 Lehrer sprechen Deutsch“, sagt daher Osuchowski, „aber alle versuchen Deutsch in ihren Unterricht einzubauen.“
Die Schule verlangt den Lehrern auch neben der Sprache einiges ab: Unterrichtet wird nach den Grundsätzen der Montessori-Pädagogik, was bedeutet, dass sämtliches Lehrmaterial selbst hergestellt werden muss – in polnischer und in deutscher Sprache. Die Lehrer investieren weit mehr Zeit und Arbeitskraft als in staatlichen Schulen, zumal neben dem Achtstundentag in der Schule noch zusätzliche Aktivitäten in Sport, Musik und Tanzen angeboten werden.
Ein Kraftakt ist für jeden privaten Schulträger die Bereitstellung eines Gebäudes. Zwar tritt die öffentliche Hand Gebäude für solche Zwecke ab, jedoch sind diese marode und es braucht sehr viel Geld, um sie zu sanieren. Dazu trägt der Staat nichts bei. „Es geht nur dank der Mittel vom deutschen Innenministerium und mit Hilfe von Krediten“, sagt Bernard Gaida.
Um die Kredite bedienen und die Kosten abdecken zu können, müssen die privaten Träger Schulgebühren verlangen. Das ist auch in der zweisprachigen Schule in Raschau/Raszowa der Fall, die vor 16 Jahren eröffnet wurde und ein Vorreiter in Sachen zweisprachiger Unterricht und Montessori-Pädagogik ist; Träger ist der Verein „Pro Liberis Silesiae“ (Für Schlesiens Kinder). In der Gebühr enthalten sind auch die Kosten für den Schulbus, denn „die Kinder kommen aus der ganzen Umgebung, aus bis zu 40 Kilometern Entfernung“, sagt die Vorsitzende des Vereins, Margarethe Wysdak. Die Gebühren seien aber zumutbar.
Der Verein wurde vor 17 Jahren aus einem bestimmten Grund gegründet: „In den 1990er Jahren wurde in die Infrastruktur investiert und nicht in die Bildung. Das war ein Fehler, der sich bis heute auswirkt“, kritisiert Wysdak die seinerzeitigen Politiker, auch jene der deutschen Minderheit.
In ihrer Schule wird mit viel Einsatz versucht, den Kindern die deutsche Sprache nahezubringen. „Die Art und Weise des Unterrichts und wie Deutsch verwendet wird, hängt vom Thema ab“, erläutert die Lehrerin Sabina Prokop: „Bekanntes wird auf Deutsch eingeführt, kommt etwas neu dazu, dann wird es zuerst auf Polnisch erklärt. In jeder Stunde wird aber auf jeden Fall Deutsch verwendet“, betont Prokop. Deutsch werde auch sehr viel zum Wiederholen verwendet. „Es hängt immer auch vom Lehrer ab. Manche Lehrer können eben nur Polnisch“, sagt Wysdak und unterstreicht die Probleme, sprachkundige Lehrer zu finden.
Auch in Raschau sind die Anforderungen an die Lehrer hoch. Es werden Theatertreffen organisiert und ein Liederfestival, es gibt ein Sommerlabor der Talente, Kunstprojekte und in den Ferien die Kinderspielstadt Klein-Raschau, dazu findet regelmäßig Schüleraustausch statt mit Schulen in Budyšin/Bautzen im Sorbenland, Kaltern in Südtirol, Fünfkirchen/Pècs in Ungarn, in Prag und Mainz.
„Viele Lehrer sind wegen dieser hohen Anforderungen auch schon abgesprungen“, sagt Wysdak, „aber die Lehrer, die hier sind, die sind überzeugt!“ Ein Beispiel ist eine junge Frau aus einem weiter weg gelegenen Dorf. Sie wollte als Kind diese zweisprachige Schule besuchen, aber ihre Eltern lehnten das ab, weil sie die Strapazen des Schülertransports fürchteten. „Nun erfüllt sie sich ihren Traum und arbeitet bei uns als Lehrerin, dabei ist sie noch mitten im Studium“, erzählt Barbara Loch, die gute Seele der Schule.
Ob die junge Frau einen zukunftssicheren Arbeitsplatz gefunden hat, muss sich noch zeigen. „Die ganze EU schrumpft, Polen noch schneller, und die Bevölkerung im Oppelner Gebiet noch einmal mehr“, sagt Margarethe Wysdak; dort liege die Geburtenrate bereits unter einem Kind pro Frau. Das wird Auswirkungen haben: „Wir müssen damit rechnen, dass künftig Schulen geschlossen werden.“ Es geht um das Überleben der Minderheit.
Aus diesem Grund müssten auch die Ziele internationaler Vereinbarungen ergänzt werden, findet Bernard Gaida: „In der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen ist die Rede von der Pflege einer Minderheitensprache, aber bei vielen Minderheiten geht es um die Wiederbelebung“.
Das Klima scheint in Polen dafür nicht günstig zu sein. In den letzten Jahren hätten antideutsche und antiukrainische Tendenzen stark zugenommen, sagt Gaida. Im Parlament achte man darauf, dass die Minderheiten nicht zu viele Rechte bekommen, „und in der Kommission für Minderheiten sitzen mehr Wächter gegen die Minderheiten als Befürworter.“
Sichtbar ist die Minderheit nur bedingt. Raschau und Goslawitz haben zweisprachige Ortsschilder, so wie auch weitere 31 Gemeinden und 357 Ortschaften in ganz Polen. Der Bezirkshauptort Oppeln (auf Polnisch Opole) dagegen hat keine, es gibt dort auch keine Aufschrift, keinen Wegweiser oder sonst einen
Ein Ort bekommt dann ein zweisprachiges Ortsschild, wenn die Minderheit mindestens 20 Prozent der Bevölkerung stellt und der Gemeinderat es beschließt. „20 Prozent sind eine hohe Marke“, sagt Rafal Bartek, der aktuelle Vorsitzende des Dachverbandes der deutschen Minderheit, und erläutert: „Zum zehnjährigen Bestehen des Minderheitengesetzes wurde eine Novelle auf den Weg gebracht, in dem zehn Prozent vorgesehen waren. Dagegen hat aber Staatspräsident Andrzej Duda sein Veto eingelegt“, erläutert Bartek. Für Orte, wo die Minderheit schwächer ist, gibt es allerdings ein Hintertürchen: Dort kann eine Volksbefragung durchgeführt werden; fällt diese positiv aus und stimmt der Gemeinderat zu, können auch hier zweisprachige Ortstafeln aufgestellt werden.
In den Behörden spielt Deutsch kaum eine Rolle, obwohl es laut Minderheitengesetz als Hilfssprache im Verkehr mit Gemeindeämtern gebraucht werden kann – allerdings nur dort, wo die 20-Prozent-Marke übertroffen wird. Die betreffende Gemeinde muss auch die Eintragung in ein staatliches Register beantragen, bevor der Gebrauch des Deutschen im Amt möglich ist.
22 Gemeinden sind in dieses Register eingetragen. In der Praxis wird diese Möglichkeit nirgendwo genutzt. Das liegt nicht nur daran, dass es fast nirgends zweisprachiges Personal gibt. Es liegt in erster Linie daran, dass die Angehörigen der deutschen Minderheit – aus den genannten Gründen – durchwegs besser Polnisch sprechen als ihre Muttersprache, weshalb es einiger- maßen unsinnig wäre, sich auf Deutsch an die Gemeindeverwaltung zu wenden. Auf höherer Ebene, im Verwaltungsbezirk oder gar bei staatlichen Behörden, ist die Verwendung von Minderheitensprachen gar nicht erst zugelassen.
Trübe Aussichten also für die deutsche Minderheit? „Die Demokratie ist uns nicht für ewig gegeben, und auch die Minderheitensprache nicht“, sagt Rafal Bartek, „wir müssen unablässig um sie kämpfen“. Das tun Bartek, Bernard Gaida, Martina Osuchowski, Margarethe Wysdak und all ihre Mitstreiter: Damit auch die künftigen Generationen der „Nachtigallen“ ihren Wunsch nach Frieden vorbringen können.
Deutsch und Schlesisch
Die deutsche Sprache ist in Oberschlesien nirgends mehr Alltagssprache. In den Familien wird meist der schlesische Dialekt gesprochen, eine polnische, mit vielen deutschen Wörtern durchsetzte Mundart. Der bis 1945 vor allem in Niederschlesien gesprochene deutsche schlesische Dialekt ist mit Kriegsende ausgestorben. Die Diskrepanz in der Stärke der Minderheit zwischen den Daten der Volkszählung 2021 (knapp 150.000 Angehörige in ganz Polen) und der Eigeneinschätzung der Minderheit (bis zu 350.000 Angehörige) liegt unter anderem im Aufkommen einer „schlesischen regionalen Identität“ und der von der PiS-Partei befeuerten antideutschen Stimmung begründet: Wer sich als Schlesier bekennt, muss sich nicht zwischen polnischer oder deutscher Identität entscheiden. Die Bewegung „Bund der schlesischen Bevölkerung“ versuchte die Anerkennung als nationale Minderheit zu erreichen, was polnische Gerichte und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber zurückwiesen.
Die Deutschen in Polen
Die deutsche Minderheit schätzt die Zahl ihrer Angehörigen auf 300.000 bis 350.000 Angehörige. Etwa 220.000 leben in Oberschlesien; dort gibt es Gemeinden mit über einem Viertel an deutschen Einwohnern. Deutsche leben aber auch in anderen Teilen Polens, so in Niederschlesien, Ermland-Masuren, Pommern und anderen Landesteilen. Neben der deutschen sind noch acht weitere nationale und vier ethnische Minderheiten offiziell anerkannt.
Die Minderheit als Druckmittel
Zum Schuljahr 2022/23 kürzte die von der PiS-Partei geführte polnische Regierung die Zahl der Deutschstunden von drei auf eine; die Stundenzahl anderer Minderheitensprachen blieb unverändert. Mit dieser offenkundigen Diskriminierung wollte Warschau Druck auf Berlin ausüben, die in Deutschland lebenden Polen als Minderheit anzuerkennen. Diese polnischen Gruppen entsprechen allerdings nicht der Definition einer nationalen Minderheit. Weiteren Druck sollte die polnische Forderung nach Reparationszahlungen in Höhe von 1,3 Billionen Euro für die vom Nazi-Regime während des Zweiten Weltkriegs in Polen angerichteten Schäden bewirken. Die im Dezember 2023 ins Amt gelangte neue polnische Regierung unter Donald Tusk nahm die Kürzung der Deutschstunden als eine ihrer ersten Maßnahmen zurück – sie hatte aber bereits großen Schaden angerichtet.
Das Netzwerk MIDAS
Die Europäische Vereinigung von Tageszeitungen in Minderheiten- und Regionalsprachen (Midas) wurde 2001 gegründet. 28 Tageszeitungen aus 12 Staaten gehören Midas an. Ziel ist, gemeinsam Strategien zu entwerfen und die Zusammenarbeit beim Austausch von Informationen, bei Druck und Marketing zu fördern. Dieser Bericht entstand im Rahmen dieser Zusammenarbeit.










