Die Poesie des Eskapismus

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Die Stadt der Träumenden Bücher“ Walter Moers Piper Verlag ISBN-10: 3-492-26711-4 ISBN-13: 978-3-492-26711-3

Der Lindwurm und zamonische Schriftsteller Hildegunst von Mythenmetz

„In tiefen, kalten, hohlen Räumen
Wo Schatten sich mit Schatten paaren
Wo alte Bücher Träume träumen
Von Zeiten, als sie Bäume waren
Wo Kohle Diamant gebiert
Man weder Licht noch Gnade kennt
Dort ist’s, wo jener Geist regiert
Den man den Schattenkönig nennt.“ 

Stimmungsvoll und finster leitet der Kinderbuchautor Walter Moers, Schriftsteller und Illustrator, in die Übersetzung von einem „Roman aus Zamonien von Hildegunst von Mythenmetz“ ein. In seinem Zamonien-Zyklus, zu dem auch Klassiker wie „Blaubär“, „Rumo“ oder der „Schrecksenmeister“ zählen, kreiert der pressescheue Autor den gleichnamigen Kontinent, in dem es vor eigenartigen Antihelden nur so wimmelt.  Bücher, die sich um Bücher drehen, ein Paradies für alle, die das geschriebene Wort lieben – aber auch viel Potenzial, in die altbekannte Werkzeugkiste der Klischees zu greifen. Moers lässt sich nicht ein auf den kleinen Kampf zwischen Hochliteratur und Belletristik. Das Buch als Graphic Novel zu bezeichnen, wäre zu viel, und dennoch bezaubern die Illustrationen von Moers in ihrem schrägen Detailreichtum und den absurden Wesen, die sich hinter den Eselsohren verkriechen. 

Ein bisschen langatmig mögen die Abschweifungen des Dichterpaten Danzelot für den weniger lyrisch veranlagten Leser anmuten, denn da wird munter drauf los sinniert: „Der Blumenkohl ist also eine vor dem Aufblühen in ihrem eigenen Fett verunglückte Blume, oder genauer gesagt: eine verunglückte Vielheit von Blumen, eine verkommene Rispendolde.“

Nach dem Ableben seines Dichterpaten vermacht dieser dem tapferen, aber behäbigen Hildegunst ein unbeschreiblich außergewöhnliches Manuskript und die Echse macht sich in die Stadt der träumenden Bücher auf, um den Verfasser ausfindig zu machen und um selbst der größte Schriftsteller aller Zeiten zu werden. Buchheim ist ein behagliches Gedränge von Antiquariaten an Antiquariaten, bauchigen Häusern, die sich wie Streichholzschachteln durch die Gassen von qualmenden Kneipen und abstrusen Wesen mit literarischen Trieben drängen. Doch das gemütliche Buchheim wankt über den ausufernden Katakomben des Labyrinths, in denen die Skrupellosesten unter den Bücherjägern auf der Suche nach den seltensten Schätzen ihr Unwesen treiben und längst vergessene Schatten aufwecken. Und wie es kommt, findet sich unser Held in der Unterwelt Buchheims wieder und von Neuem hallen in den Irrwegen des Labyrinths alte Verse vom Schattenkönig wider.   

Aus den abstrusesten Gestalten von gefallenen Schriftstellern, egozentrischen Literaturkritikern und wandernden Schatten sprudelt nur so der Wortwitz und die Leidenschaft an Sprache, die zu teilen makabre Züge annimmt. Deswegen ist Moers sicherlich lesenswert für Kinder, aber eigentlich ein Geheimtipp für Erwachsene, die irgendwann feststellen, dass sich ein geheimnisvolles Wesen die Stimme von Goethe geliehen hat. Und zwischen all den Wortspielen und Anagrammen tritt aus den Zeilen eine vorsichtige Meinung zum Literaturbetrieb selbst her-vor: „Bücher erschaffen kannst du noch nicht”, sagte eine weise Kreatur, „aber umbringen kannst du sie schon. Bist du sicher, dass du nicht lieber Kritiker werden möchtest?“ 

Nur zu gern würde man mit Hildegunst von Mythenmetz tauschen, um an seiner Stelle durch die Stadt der potenziell tödlichen Bücher zu irren, jeden Tag und immer wieder. Sich in den Seiten eines schweren Wälzers vor dem Novemberregen zu verstecken, in einem Sessel versunken an einer Tasse dampfenden Hagebuttentees zu nippen und die Abenteuer der neugierigen Echse zu genießen. Eskapismus kann man mit jedem Genre betreiben, das ist ja das Schöne. Die träumenden Bücher bleiben keine Stilmittel, sondern in den Kellern und Katakomben von Buchheim verschollene und vor sich hin dämmernde Bestände. Doch „nur wenn ein Buch von suchender Hand ergriffen und aufgeschlagen, wenn es erworben und davongetragen wurde, dann konnte es zu neuem Leben erwachen. Und das war es, wovon all diese Bücher träumten.“


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.