„Es gibt viele Dinge, wie Musik, die uns ergreifen können“, sagt Samira zu Jakob. „Aber sie betäuben uns zugleich. Machen uns taub für die Stimme in unserem Inneren.“ „Die Stimme Gottes?“, fragt dieser zweifelnd. „Nein, es ist die Stimme, die sich fragt, ob es im Leben nicht mehr gibt als diese geistige Narkose aus Konsum und Medien, Sex und Partys, Alkohol und Trash, das ewige Funktionieren und Sich-Anpassen, das Kaufen und Saufen, das Ficken und Fernsehen“, entgegnet ihm das verschleierte Mädchen, das er nur ein paarmal kurz gesehen hat, am Telefon.
Nie hätte sich Jakob vorstellen können, zum Islam zu konvertieren. Oder gar mit den ultrakonservativen Salafisten zu sympathisieren, die weltoffene „weichgespülte“ Muslime und tolerante „Moslemversteher“ gleichermaßen verachten. Für sie gilt der Dschihad als heilige Pflicht, der Tod für den islamischen Gottesstaat IS führt direkt ins Paradies. Deutschland ist für sie nur Dar-al-Kuffar, das Land der Ungläubigen.
Unvorstellbar, dass ein deutscher Junge, Betriebswirtschaftsstudent im ersten Semester in Bonn, der bei der kleinsten Schwierigkeit jederzeit in sein altes Kinderzimmer zurückkehren könnte, sich vor der Frage wiederfindet, mit seinem neu gewonnenen Freund Adil nach Syrien zu ziehen, um dort für eine „andere Gerechtigkeit“ zu sterben. Spielen Liebe und Freundschaft, die ihm auf diesem Weg begegnen, eine verblendende Rolle? Ist es der Zusammenhalt der Brüder, die Jakob anfangs auf die Probe stellt – wer hilft dir schon in einer ausweglosen, dazu überaus peinlichen Situation? Nein, das wäre zu einfach. „Wer hat Sie derart manipuliert?“ fragt Gorski entsetzt, als der Student seinen Job bei ihm hinschmeißt. Da trägt er bereits Bart und Dschellaba und unterstreicht seine Rede mit Sätzen wie „bismillahi rahmani rahim“, alles Lob gehört Allah.
Doch Jakob wurde nicht schleichend angeworben, nicht abhängig gemacht, keiner Gehirnwäsche unterzogen. Was hatte Samira ihm gesagt? „Stille. Wenn du Stille findest, kannst du auch Liebe finden.“ Eine andere Art von Liebe. Und Jakob will zu sich, zu seiner inneren Stimme finden. Zu dieser versprochenen Liebe, von der er gar nicht weiß, ob sie überhaupt etwas mit Samira zu tun hat. Tun, was ihm wirklich entspricht! Selbst entscheiden, nicht die Gehirnwäsche seiner Gesellschaft kritiklos übernehmen. Den wahren Jakob finden. Der schleudert Gorski dann so schlaue Sätze entgegen, wie: „Wenn einem klar wird, dass diese sogenannte westliche Lebensweise auf der wirtschaftlichen und ökologischen und auch seelischen Ausbeutung der restlichen Welt beruht, wenn man zu verstehen beginnt, dass die Unterdrückung der Frau in Wahrheit ganz bestimmt nicht im Islam stattfindet, sondern auf Youporn und in den Castingshows im Fernsehen – ist das dann manipulativ?“
„Wer ist der Terrorist?“ fragt Adil. Der amerikanische Fettsack in Ramstein, der auf den Knopf drückt und statt der mutmaßlichen IS-Zelle in Syrien eine Hochzeitsgesellschaft trifft, die Gedärme der Braut spritzen über die Sahnetorte – ist der kein Terrorist? „Ups, rülpst er bloß, während ihm fettiger Sabber von seiner Cheesy-Crust-Pizza aus dem Maul tropft, ups, das ging wohl daneben.“ Und der Militärsprecher drückt sein Bedauern aus. „Aber nein, wir sind ja die Terroristen!“
Wer schreibt am Ende die Geschichte für die Nachwelt auf? Der Sieger. Immer nur der Sieger.
Sensible Sinnsuche und deftige Jugendsprache. Anspielungen auf historische Ungerechtigkeiten und die doppelte Moral der westlichen Medien – was ist empörender, 9/11 oder der Massenmord an Muslimen in Srebrenica, den die Presse ignorierte? Damit konstruiert Christian Linker seine spannende Geschichte. Authentisch, nachvollziehbar, ohne Tabus, Schwarzweißmalerei oder moralisierendem Zeigefinger.
Schnell erkennt man: Eigentlich geht es nur vordergründig um Terrorismus. Hinter dieser austauschbaren Fassade brodelt vielmehr die verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens, nach verlässlichen Werten, nach mehr Aufrichtigkeit in der Gesellschaft, begleitet von dem starken Bedürfnis nach Gleichgesinnten, auf die man sich verlassen kann. Dafür geht man auch Kompromisse ein, normal, wie überall. Gilt diese Sehnsucht nicht für viele Jugendliche? Ob und in welche ideologische Richtung das Abgleiten stattfindet oder auch nicht, ist eine Frage des Zusammentreffens von Ereignissen und Gefühlen zum richtigen, falschen Zeitpunkt.
Vor seinem zu spät kommenden Möchtegern-Retter begehrt Jakob auf: „Solange man keine Probleme macht, interessiert sich doch keine Sau für einen. Abi machen, Fresse halten, studieren und funktionieren, mehr wollt ihr doch gar nicht von einem.“ „Ich bin ein Produkt Ihrer Gesellschaft. Ich bin Ihr Spiegel. Ihr Gegenentwurf“, hält er ihm vor. „Und genau deshalb Ihr Produkt. Ändern Sie nicht uns. Ändern Sie sich selbst. Auf Wiedersehen.“
Interessant ist der Ansatz des Autors, Anfang und Ende der Geschichte in parallelen Erzählsträngen zu verbinden: In dem einen erlebt man hautnah mit, wie Jakob sich dem Islam nähert – eine religiöse Alternative, warum nicht? – ausgelöst durch die Faszination für Samira. Man beobachtet seine langsame Radikalisierung, wie er lernt, die Dinge anders zu sehen. Anders zu lieben – aber auch zu hassen. Ertappt man sich dabei nicht selbst, den gewohnten Denkrahmen zu verlassen, erstaunt, wie nachvollziehbar manche Argumente der Salafisten klingen? Es scheint, als hätten beide Seiten aus ihrer Perspektive recht. Zwei Gegner in einer Art Krieg.
Die Legitimität dieses Krieges nimmt auf der anderen Seite der Rückblick des Freundes, des überzeugten Dschihadisten, sein Tagebuch. Darin verpackt der Autor geschickt Hintergrundwissen zum Islamischen Staat, dessen Vorgehen in Syrien und dem Irak, den Kampf Muslime gegen Muslime, zeigt Absurditäten auf. Sind wir nun Al Qaida – oder sind das jetzt unsere Feinde, fragt sich der Gotteskämpfer aus Deutschland an einer Stelle – und beeilt sich, die Stimmen in seinem Kopf schnell wieder zu verdrängen. Am verblüffenden Ende, das enthüllt, wie das verbotene Tagebuch in die Hände des Haupthelden gelangt, hat der Dschihadist zwar in gewissem Sinne seine Mission erfüllt… Und Jakob weiß endlich, was er nicht will; vielleicht noch nicht, was er will. Doch da ist immer noch Samira.
Christian Linker, geboren 1975, studierte Theologie und war beruflich in der Kinder- und Jugendpolitik unterwegs, bevor er sich als dreifacher Vater ganz dem Schreiben widmete. Seine vielfach ausgezeichneten Jugendromane bergen politische Brisanz oder magische Fantasie – manchmal auch beides zugleich. Er schreibt über brisante Themen wie Hacker, Erpressung im virtuellen Raum, sexuelle Ausbeutung, Neonazis, Wurmlöcher oder darüber, was passiert, wenn weltweit das Internet ausfällt und die Frage, wer davon profitiert... Mehr zum Autor auf dessen Webseite: www.christianlinker.de
Die monatliche ADZ-Reihe „wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Iinstituts auszuleihen.