Der in Siebenbürgen aufgewachsene, im Jahre 1985 als Teenager in die Bundesrepublik Deutschland ausgewanderte und heute in Tübingen lebende Harry Hain hat im vergangenen Jahr bei Bookmundo Osiander einen schmalen Band herausgebracht, welcher die Reise beschreibt, die der Autor im Frühsommer 2019 durch Siebenbürgen bis nach Czernowitz/Cernăuți unternommen hat, das nach dem Ersten Weltkrieg über zwei Jahrzehnte lang zu Rumänien gehörte.
Im Anhang zu seinem Büchlein, in dem Harry Hain die von ihm verwendete Reiseliteratur aufführt, werden nicht nur einschlägige Czernowitz-Werke von Peter Rychlo sowie von Edith Silberman und Amy-Diana Colin erwähnt, sondern auch die im Honterus-Verlag Hermannstadt unter dem Titel „Komm mit durch Rumänien“ erschienene Sammlung von ADZ-Reisereportagen, von denen im vergangenen Jahr bereits der dritte Band publiziert wurde.
Was Harry Hains „Reisevisionen“ so besonders macht, sind in erster Linie zwei Gesichtspunkte. Zum einen bedeuten sie für den Autor eine Rückkehr in seine eigene Kindheit und Jugend, zum anderen stellen sie die gesamte Reise unter den thematischen Oberbegriff der Inszenierung, der in Harry Hains Reiseband in all seinen Facetten zum Schillern gebracht wird. Zu dieser besonderen Perspektivierung mag gewiss auch beigetragen haben, dass der Autor seit vielen Jahren beruflich als Lehrer für Pädagogik, Psychologie und Darstellendes Spiel tätig ist.
Diese beiden Themenbereiche, Herkunft und Heimat auf der einen Seite, Schau und Inszenierung auf der anderen Seite, treten in Harry Hains „Reisevisionen“ aber nicht getrennt in Erscheinung, sondern werden gewissermaßen enggeführt. Das zeigt sich exemplarisch etwa im Kapitel „Masken des Seins“. Der Autor ist über Hermannstadt/Sibiu und Karlsburg/Alba Iulia nach Mühlbach/Sebe{ gelangt, wo er den sächsischen Spuren in sich selbst wie auch in diesem Landstrich nachgehen möchte: „Dann stehe ich im Zentrum von Mühlbach und diesmal sind meine Gefühle, kaum eine halbe Stunde später, von den sehr ordentlich wirkenden Häuserzeilen überwältigt. Hatte ich diese Zugehörigkeitsgefühle zu einer konstruierten und inszenierten Sachsengemeinschaft nicht schon lang überwunden? Jetzt tauchen diese ‚strammen’ Häuser in der mir fremden Stadt Mühlbach auf, eine Kondi mit Kuchen aus alten Zeiten verführt mich zur Einkehr und eine alte Schule mit der Aufschrift „Bildung ist Freiheit“ gibt mir den Rest. Urplötzlich kann ich mir einbilden, dass man sich auch im Jahre 2019 dem Gefühl einer sächsischen Identität hingeben kann. Nun ja, ich liebe meine Gefühle. Ganz trauen kann man ihnen nicht. Ich werde nicht bleiben, der ich nie war. Die Reise geht weiter.“ (S. 15f.)
Der Begriff der Inszenierung wird jedoch in Harry Hains „Reisevisionen“ nicht nur, wie in obigem Zitat, im metasprachlichen Sinne eines Identitätskonstrukts verstanden, sondern auch ganz wortwörtlich und im konkreten Sinne der Inszenierung eines Theaterstücks. So formuliert der Autor bereits im ersten, „Atlantis im Buchenland suchen“ überschriebenen, Kapitel seines Reisebuches dezidiert programmatisch: „Ich will mir nicht nur den Alltag von verschiedenen Gegenden und Städten in Rumänien anschauen, sondern auch in möglichst viele Theatervorstellungen gehen.“ (S. 5) Dementsprechend findet sich im Anhang des Reisebuches von Harry Hain ein Verzeichnis der insgesamt achtzehn auf seiner Rumänien-Reise besuchten nationalen und internationalen Inszenierungen von Theaterstücken, wobei die Hälfte davon auf das Konto des Internationalen Theaterfestivals geht, das im Juni 2019 in Hermannstadt stattfand.
Doch nicht nur künstlerische Theaterinszenierungen wie die der französischen Clownin Elodie Hatton in Karlsburg kommen bei Harry Hain zur Sprache, sondern das alltägliche Leben selbst wird zu einer Inszenierung auf der Bühne eines Theatrum Mundi vel Dei. So wird der Autor Zeuge eines Gottesdienstes in der orthodoxen Karlsburger Dreifaltigkeitskathedrale, dessen Wirkung auf ihn er folgendermaßen kommentiert: „Die Heiligkeit im Raum ist förmlich mit den Händen zu greifen. Es ist ein heiliges Spiel, das hier gespielt wird. Ein ernstes Spiel? Spiel mit dem Ernst? (…) Ich frage mich, ob diese Zeremonie als Inszenierung gesehen werden kann. Als Inszenierung der Unzulänglichkeit menschlichen Seins? Jedenfalls, so will mir scheinen, ist diese Zeremonie für die Teilnehmer kein Spiel. Jedenfalls kein Spiel, solange die Teilnehmer den Spielcharakter der Veranstaltung nicht gewahr werden.“ (S. 11)
Inszenierung des Heiligen in der Kirche, Inszenierung der Geschichte im Museum, Inszenierung der Existenz im Alltag, Inszenierung des Daseins auf der Theaterbühne, Inszenierung des Lebens im Erzählen – so sieht sich Harry Hain im Fokus eines ubiquitären Inszenierungsgeschehens, das selbst vor einer Klausenburger Pizzeria nicht haltmacht. Denn: „Muss man Pizza nicht so inszenieren, dass dabei sowohl Armut als auch Erfolg im Duett jubilieren? Schließlich muss jedem Pizzeriabetreiber klar sein, dass eine Pizzeria ein transnationaler Ort ist, der von Versöhnung getragen ist.“ (S. 22)
Über Klausenburg/Cluj-Napoca führt ihn die Reise weiter ins historische Buchenland, in die geschichtliche Region der Bukowina. In Sucevi]a, wo Harry Hain das berühmte Kloster mit den wunderbaren Innen- und Außenfresken besucht, die zum Weltkulturerbe zählen, wohnt der Autor sinnigerweise in einer „Unterkunft mit dem schönen Namen poiana viselor, Lichtung der Träume.“ (S. 24) Klostergarten und Friedhof geben Anlass zu Reflexionen über die menschliche Existenz, die sich auch auf dem Gottesacker von Putna fortsetzen, und auf dem jüdischen Friedhof von Siret, der rumänischen Grenzstadt zur Ukraine.
Nach dem Besuch von Suceava und einer Musical-Veranstaltung im dortigen Matei Vi{niec-Theater – gegeben wurde „Anatevka oder Der Fiedler auf dem Dach“ in einer Inszenierung des Königin-Maria-Theaters Großwardein – gelangt Harry Hain schließlich nach Czernowitz, einem „Projektionsort“ par excellence. „Projektionsorte, also Orte, mit denen wir andere Perspektiven verbinden, sind, beim Distanznehmen zu den Selbstverständlichkeiten in unserem jeweiligen Alltag, unentbehrlich.“ (S. 39) Nun häufen sich die kulturellen Reminiszenzen: Ninon Ausländer, Hermann Hesses dritte Ehefrau, Rose Ausländer, die Dichterin, beides Czernowitzerinnen, die Erinnerungsplastik für den in Czernowitz geborenen Paul Celan, Karl Kraus, die Czernowitzer deutsche und jüdische Kultur, Czernowitz als „Geisterstadt“ (S. 53) nach der Lesart des Jassyer Germanisten Andrei Corbea-Hoișie – all dies bietet Projektionsflächen für eine „neue Inszenierung in alten Kulissen“ (S. 53), für weiterführende Begegnungen und in die Zukunft weisende Erfahrungen.
Das letzte Kapitel der Reiseaufzeichnungen von Harry Hain trägt die Überschrift „Auspendeln“. „Meine Reise nach Czernowitz ist zu Ende. Ich suche mir einen neuen Ausgangspunkt in Michelsberg. Ein Ausgangspunkt zwischen Sesshaftigkeit und geordneten Bildungseskapaden. Auspendeln ist angesagt.“ (S. 77) Zahlreiche Schwarzweißfotos begleiten dieses unprätentiöse und mit leichter Feder geschriebene Reisebüchlein, das gleichwohl philosophischen Reflexionen und existentiellen Betrachtungen mit Tiefgang Raum gewährt und Geschichte mit Gegenwart, Vergangenes mit dem Heutigen in gelöster Heiterkeit zu verbinden weiß. Nicht von ungefähr lauten die beiden letzten Worte des Reisebandes: „Ich lächle.“ (S. 78)