Man gerät ganz leicht hi-nein in dieses leuchtende Ausrufezeichen der berglanddeutschen Deutschprachigkeit: per Zug, Auto oder sogar gestelltem Bus. Denn der Organisator macht es einem leicht: wie ein gutmütiger Generalissimo leitet und dirigiert Erwin Josef }igla, gekonnt und geübt seit nun-mehr 31 Jahren, diese vier Tage. Sie sind dynamisch und überraschend jung und gleichzeitig vertraut, intim und dabei auf hohem Niveau. Es handelt sich um die Deutschen Literaturtage Reschitza (DeLiT-Reschitz), wo nicht nur Berglanddeutsches, sondern Rumäniendeutsches und Weltdeutsches seinen Auftritt hat.
Nora Iuga ist eine der Superstars an diesen Tagen und heuer leitete sie ins Literarische ein, mit Lyrik aus ihrem Buch „Ausgewählte Gedichte“, das ins Deutsche übersetzte Gedichte enthält. Aber sie überraschte auch mit frischem Material, das surreal Kindheitserinnerungsbrocken mit Fantastischem verknüpft und das sie dem Publikum als Aperitif gereichte.
Schwer war das Umschalten auf die folgenden Sachbücher. Es bedurfte der Erklärungen des Verlegers Traian Pop und der Einführung des Historikers Rudolf Gräf bzw. des Journalisten Werner Kremm, um danach vom Mitautor Ioan Bolovan zu erfahren, wie dokumenten- und quellenbasiert diese Arbeit ist: „Geschichte Siebenbürgens“. Außerdem ist ein solches Buch aus siebenbürgisch-rumänischer Feder wichtig, als Gegengewicht neben den meist aus Ungarn stammenden diesbezüglichen Studien.
Ein Buch über die Geschichte von Glocken und Glockengießereien auf heutigem rumänischen Gebiet stellte Dr. Volker Wollmann vor, Spezialist im Bereich des industriellen Kulturerbes.
Stolz flammte das Logo „250 Jahre Industrie in Reschitza“ hinter den beiden nachfolgenden Rednern auf, die ihre Prachtbände zu Reschitza und anderen Berglandbanater Städten präsentierten: „Reschitza: Visionen 2“ von Erwin Josef Țigla und Gheorghe Jurma. Mit lokalpatriotischem Pathos glänzte erneut das goldene Industriezeitalter Reschitzas in seinen beiden Symbolen, dem stets stählernen Springbrunnen im Zentrum und dem stets spruchreifen Übertitel „Stadt mit Dichtern“ (aus dem Jahr 1982) auf.
Den zweiten Tag läuteten ostereierdekorartige Skizzen der slowenischen Gäste ein. Durch die Schautafeln wurde der Vortragssaal um einen Hauch enger.
Joachim Wittstock, dessen schöne und schöngeistige Gesten dirigentenartig seine meisterlichen Purprosa-Leseproben begleiteten, präsentierte „Aus dem Auf und Ab im Leben des Petrus Benvenuto Bogner. Erzählende Prosa“. Köstlichkeiten voller Esprit, Tiefgang und Analysekraft als Antwort auf lebensschwere Fragen aus Siebenbürgen.
Der polyglotte und experimentierfreudige Gedichtband in drei Sprachen von Edith Ottschofski, Nora Iuga und Alain Jadot trägt unter anderem zur Klärung der Frage bei: Wer sind die Mitfahrer der Autorin im Berliner öffentlichen Nahverkehr? Knapp getaktet und polyglott sowieso.
Beatrice Ungar bekam für ihren Band „Werte haben keinen Preis“ zwar keinen Preis, dafür aber Applaus und Diskussionen zum Thema Multi- und Plurikulturalität, Begriffe, die in Siebenbürgen zum Alltag gehören. Und der Lehrerroman ihres Großvaters „Lehren Lieben Leben. Ein Lehrerroman“, den sie liebevoll aus seinen handschriftlichen Aufzeichnungen zusammengestellt hat, erzählt zwei Tage im Leben eines Sachsenlehrers.
Eine aktive, interessante und prämierte Autorin aus Schäßburg, Mariana Gorczyca, hat über die Bărăgan-Deportation einen gut recherchierten Roman geschrieben: „Zwangswohnsitz”. Dort findet man nun auch in deutscher Übersetzung (von Beatrice Ungar) die Geschichte einer deportierten Familie aus Rubla bei Însurăței, südlich von Brăila.
Dieser schweren, bedrückenden, lange tabuisierten Themen der Deportationen in den Stalin- und Dej-Zeiten nahmen sich Albert Bohn und Anton Sterbling als Herausgeber an. Es lasen aus den Erzählberichten der Kinder von Deportierten nach Russland Anton Sterbling, Werner Kremm, Hellmut Seiler, Horst Samson, Traian Pop und Britta Lübbers. Nur 76 bzw. 70 Jahre sind die Russland- bzw. B˛r˛gan-Deportationen her. Ob es einen kollektiven Sinn hinter dem individuellen Leid der Deportierten geben kann, vor allem, wenn man davon ausgeht, dass es keine kollektive Schuld für die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs gibt, war eine Frage, die hitzig diskutiert wurde, nachdem aus dem Buch mit 110 Berichten der Nachfahren gelesen wurde.
„Werkzeuge, Waffen, Instrumente. Kurzprosa“ des ruhigen, humorvollen, banatischen, geduldigen Erzählers Viorel Marineasa ist nun auch in deutscher Sprache beim Pop-Verlag in Kremmscher Übersetzung erschienen.
Einen mit reichlich Fotos gefüllten Band von Franz Remmel über das Leben, die Regeln und die Geschichte von traditionellen Roma stellte Werner Kremm vor: pikante Verhaltensregeln, eine Art Ehrenkodex oder vielleicht Verfassung oder Verschwörung einer Ethnie. Allerdings wurde nach einer Publikumsintervention geklärt, dass das Buch nur einen vielleicht romantisierenden, exotisierenden Blick auf traditionelle Clanstrukturen wirft und nicht über die in der rumänischen, deutschen, ja europäischen Öffentlichkeit zu sehende und erfahrbare Realität der Ausbeutung von Kindern, Frauen, u.a. innerhalb von mafiotischen Strukturen (Diskriminierung und Ungerechtigkeiten ebenso) berichtet. Inwiefern eine Parallelgesellschaft so etwas ermöglicht, hervorruft, verstärkt, ist eine andere Frage.
Der dritte Tag begann mit den Vorstellungen der Temeswar-Delegation. Einen Gruß als Organisatorin der Stafettetreffen des Literaturkreises „Stafette“ aus Temeswar sprach Henrike Brădiceanu-Persem und las Gedichte, die recht duster anmuteten, jedoch Hoffnungsschimmer enthielten.
Dr. Annemarie Podlipny-Hehn brachte gleich vier Prachtbände mit, kunsthistorische Studien zu Adolf Humborg, Iosif Ferenczi, Emil Lenhardt und Stefan Jäger, Maler, die auch in Temeswar aktiv waren und deren Gemälde im Kunstmuseum Temeswar zu sehen sind. Die Autorin ist ja eine beachtliche Pionierin auf diesem Gebiet der Erforschung von Maltraditionen in der Bega-Stadt und klärte auch über die schwierigen Lebensumstände dieser Künstler auf.
Arnold Schlachter präsentierte Gedichte aus seinem Debütband „Ein Jahr“ und noch unveröffentlichte Gedichte aus den Serien Pandemie, Peripherie (zusammen mit Arthur Funk, der ebenfalls las), Plantschgedichte und Reschitza.
Es folgte Anton Sterbling mit „Klimadelirium“, einem extrem aktuellen Thema und „Die abgesunkene Repu-blik“, mit extrem zukünftigen Erzählungen. Es handelt sich um Zukunftsfantasien, sehr interessant für die meisten Zuhörer, weil sie darin als unsterbliche Figuren in der Zukunft auftreten: Schelmisches, Humorvolles, Ironisierendes und wohl auch Frustrationenaufarbeitendes finden sich darin.
Die einzige Online-Teilnehmerin als Uni-gebundene Professorin war Carmen Elisabeth Puchianu, die mit „Text-Collage“ in gewohnt theatralischer Manier im pittoresken Atelier mit Staffelei als Beweismittel im Hintergrund wieder einmal zeigte, welch vielseitige Künstlerin hier Bildschirmarbeit leistet. Ihr Band „Professoressa“ unterhielt, die Susanna im Bade lässt sich begaffen und einen nachdenklich zurück.
Ungar und Ungar – Autorin und Übersetzerin – Schwester und Schwester – Christel und Beatrice – waren dann dran mit „Du bist mein Kreuz“, das wie so viele andere Werke schon vor einem Jahr präsentiert wurde, damals aber nur online und nur halb so greifbar.
Als Höhepunkt vor dem Höhepunkt vor dem Höhepunkt traten auf: H.S. und H.S., beides Autoren des Exil-PEN-Clubs. Der erste, Horst Samson, brachte „In der Sprache brennt noch Licht“, eine Sammlung von bisher unveröffentlichten Gedichten der letzten paar Jahre mit. Man könnte meinen, das sei die zweite Wahl, da er so viele Bände in dieser Zeitspanne veröffentlicht hat. Aber es handelt sich um spannendes und einfühlsames Material, Reflexionen, Integration von Widersprüchlichem, fast dialektisch, allerdings mancherorten moralisierend, wie zum Beispiel hier: „noch hebt uns die Niedrigkeit des Begehrens.“ Oder ist das Begehren nur niedrig, um das Erheben (Erektion?) umso gewaltiger, aber auch interessanter dastehen zu lassen?
Der zweite, Hellmut Seiler, arbeitet ebenfalls mit Paradoxien, aber viel konzentrierter, quasi hochdestilliert. Der herrlich passende, lange Titel „Gnomen, Gedankensplitter und lyrische Launen“ ist schon köstlich an sich. Schelmisch, listig und lustig trickst der Autor mit Wörtern herum und lässt einen nach jeder Dosis innehalten: Wirkt das Zeug? Muss ich mehr? War das schon zu viel? Wie lange hält die Wirkung?
Katharina Kilzer brachte gleich zwei Autorinnen mit: Ana Blandiana mit „Herr der Mühle. Gedichte“, wobei sie über Blandianas „Vaterland A4”, einem Konzept, das Schreibunterlagen aufwertet, berichtete, und Kristiane Kondrats „Bild mit Sprung. Erzählungen“, Erinnerungen an die Berglandkindheit und an die vielen Tanten, Onkel, Tanten, vor allem Tanten derjenigen, die als Luise Fabri debütierte.
Der festliche Höhepunkt kam mit der Rolf Bossert Gedächtnispreisvergabe. Hellmut Seiler sprach im Namen des Freundeskreises-Rolf-Bossert und stellte klar, welch hohen Kriterien dieser Preis gerecht wird. Nora Iugas Laudatio enthielt auch ihr Credo bezüglich guter Poesie (weder pathetisch, noch minimalistisch) und die Dankesrede des ersten Preisträgers (von 2020) Alexander Estis klärte auf: War vormals das Ergebnis realkommunistischen Totalitarismus paranoides Denken, so haben wir im heutigen, von Estis diagnostizierten Totalitarismus, das neurotische Denken. Der Mensch sei heute einem Überangebot an Identifikationsmodellen ausgesetzt und das Groteske sei der perfekte Indikator dafür. Seine Gedichte und kurzen Texte sind voller Humor, kafkaesk, einem wachen Intellekt entsprungen. Wird der Freundeskreis Rolf Bossert ein Büchlein mit Estis-Material herausgeben?
Anton Sterblings Laudatio auf die zweite, heurige Preisträgerin Britta Lübbers kreiste um den Begriff und das Konzept des „richtigen Dichters“. Die Preisträgerin beeindruckte mit ihren Bekenntnissen zu ihrem Lebensweg als linke Studentin in den 80ern und der Ernüchterung aufgrund von Berichten von Dissidenten, unter anderem aus Rumänien (Rolf Bossert, Herta Müller), bezüglich der Zustände in den Warschauer-Pakt-Staaten und des real existierenden Kommunismus. Ihre (min-destens) zwei Verse über Reschitza sollten veröffentlicht werden und eine regelmäßige Herausgabe eines Büchleins der Rolf-Bossert-Preisträger wäre begrüßenswert.
Einer Klärung bedurfte der Dissens aufgrund der Namensüberschneidung des Rolf-Bossert-Gedächtnispreises mit dem Rolf-Bossert-Lyrikwettbewerb von vor etwa 15 Jahren. Das eine mindert ja nicht den Wert des anderen und beides kann koexistieren.
Den emotionalen Höhepunkt dieser Literaturtage stellte allerdings nicht die rührende Rede von Bossert-Freund Seiler, sondern der überraschende ruppige Rap von Bossert-Sohn Klaus. Er erteilte dem Gedächtnispreisvorhaben seinen Segen und taufte das junge Kind an seinem zweiten Geburtstag nicht mit einem kitschgefährlichen Blutsverwandtschaftshinweis, sondern seinem gütigen, verbindlichen und empfangenden Willkommensgruß: eine Perfomance, die seinesgleichen sucht. Er kam also nicht, um die Show zu stehlen, sondern um die Sache zu segnen. Das tat gut, genauso wie der vertraute und traute Musikausklang, zu dem man sich herrlich im herbstlichen Hinterhof unterhalten konnte.
Den letzten Tag hellte wieder Nora Iuga mit Gedichten auf, gefolgt von Lebensgeschichten des Hermannstädters Heinrich Heini Höchsmann: ironisch, teilweise derb und fäkal, die Satiren eine schwere Kost am frühen Sonntagmorgen, für einige Zuhörer ein Zeitpunkt, zu dem sie bereits auf der Messe waren.
Dagmar Dusil (Deutsch) und Ioana Ieronim (Rumänisch) haben einen zweisprachigen Gedichtband mit klar pandemiebedingten Gedichten herausgebracht, scherenschnittbebildert von Gerhild Wächter. Während Ioana Ieronim (gelesen von Beatrice Ungar) beschwört, hofft und fast an der Situation während der Pandemie verzweifelt, betet Dagmar Dusil in lyrischen Texten und bittet um Erlösung aus der bedrückenden Situation. Auf jeden Fall war es köstlich, mit den Autorinnen zu sehen, wie das Schmelzen des Schnees den Berg bis auf die Knochen entblößt.
In bedauernswerter Abwesenheit der verunglückten, titanverschraubten und auf dem Weg der Genesung befindlichen Autorin Ilse Hehn, stellte Werner Kremm ihr sehr gelobtes Buch „Roms Flair in flagranti“ vor: Fotos und Texte der vielseitigen Künstlerin in einer besonderen Melange.
Den spritzigen Abschluss der Buchpräsentationen in der Tietz-Bibliothek machte Sigrid Katharina Eismann mit „Paprikaraumschiff“, voller Prosastücke einer Lyrikerin, die Alliterationen gekonnt und leicht ins Publikum peitschte und die alte Heimat von anno dazumal und anno heutzutag beschwor. Ist dies nun Lyrik oder Prosa, ist dies nun wahr oder erfunden, was spielt das unter diesen sprachlichen Zuständen für eine Rolle? Der Alltag in Freidorf, Fratelia und Innere blieben als Abenteuer in Erinnerung und werden nun derart lebendig den nächsten Generationen vermacht, dass man sofort zur „Violeta“ gehen möchte, um die Zuckergussrosen zu kosten. Den Laden gibt es aber, wie so vieles andere auch, in Temeswar nicht mehr. Also auf ins Raumschiff, einer proppevollen, gefüllten Paprika in Buchformat und Temeswar-Storys lesen!
Den Veranstaltungsabschluss der DeLiT-Reschitz bildete der Karaschowa-Besuch bei den Bergland-Kroaten. Die Enklave im Süden der Montanstadt überraschte durch die landschaftliche Schönheit. Es gab aufwendige Trachten, diplomatische Reden, starken Kaffee, polierte Pokale, kroatische Gedichte, politische Versprechungen, monsunartigen Regen, schlaraffenländisch gedeckte Tische, slivanische Schnäpse, kurz und gut konsulmäßige Zustände, bei denen ja immer alles beklatschbar ist. Nebenan im Kulturheim lief derweil eine gästereiche Hochzeit.
Leider waren damit die diesjährigen DeLiT-Reschitz zu Ende, nicht ohne eine klassenfahrtsgleiche Busreise zurück ins Zentrum des Berglanddeutschtums. Es bleibt zu hoffen, dass Erwin Josef Țigla & Co. die Kraft finden, so dass nächstes Jahr diese Veranstaltung wieder stattfindet, und so weiter bis in alle Ewigkeit.