Ein buntes Riff im Ozean des Lebens

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

Für den sechzehnjährigen Phil ist die Mitte der Welt ein alter roter Lehnstuhl in der verstaubten Bibliothek von „Visible“. Eine Art geheimer Ort, an dem die Welt zur Ruhe kommt - nicht nur für ihn, sondern auch für seine skurrile Schwester Dianne und deren durchgeknallte Mutter Glass. Jeder hat sein eigenes Motiv, den Ruheort in dem riesigen verfallenden Anwesen irgendwo in Europa, dessen tatsächlicher Ort nie erwähnt wird, manchmal aufzusuchen. Seit Glass „Visible“ von ihrer verunglückten Schwester geerbt hat, ist es ihr neues Zuhause. Hochschwanger war die blutjunge Amerikanerin Hals über Kopf vor einer unglücklichen Beziehung dorthin geflüchtet. In Eis und Schnee, ihr Ziel bereits vor Augen, gebiert sie erschöpft die Zwillinge: Phil und Dianne.

Die Kinder wachsen in jener Freiheit auf, die auch Glass für sich beansprucht. Nichts und niemand kann diese stören, auch nicht die Neugier und das Gerede der Leute aus der nahen Kleinstadt. Das Gemüt von Glass ist hell und transparent wie Glas - und „Visible“ weithin sichtbar, kein Grund sich zu verstecken.

Doch manifestiert sich diese Offenheit und Freiheit für jeden auf ganz unterschiedliche Weise. Während die Mutter einen Liebhaber nach dem anderen abhakt und dann in die Wüste schickt, verschließt sich Dianne immer mehr, wird kontaktscheu, verleugnet ihren Körper, spricht mit Tieren und sammelt Pflanzen. Dass Phil irgendwann seine Schwulheit entdeckt, ist ein nebensächliches Detail, das niemanden besorgt, am wenigsten seine Mutter. Während die Menschen der kleinbürgerlichen Stadt empört mit Fingern auf die Bewohner von „Visible“ zeigen, was die selbstbewusste Glass nicht im geringsten stört, bilden die drei füreinander eine schützende Front, eine Mauer, die jedoch irgendwann langsam, wie die Mauern von „Visible“,zu bröckeln beginnt…

Zwischen der Faszination nahezu grenzenloser Toleranz und einer vagen Sehnsucht nach Halt und festen Formen gewinnt letztes immer mehr die Oberhand. Vor allem im Kontakt mit der Außenwelt bemerken die Jugendlichen, jeder auf seine Weise, was ihnen fehlt. Dianne rebelliert mit Geheimniskrämerei. Phil erlebt sein Anderssein, als er sich zum ersten Mal verliebt, unvorbereitet auf die Vorurteile der Gesellschaft. Welten prallen wie Wellen aufeinander, wilde Gischt schäumt auf. Verstaubte Schubladen gehen auf und zu - oder auch nicht mehr zu... 

Ist Glass eine schlechte Mutter? Für ihre Kinder ein schlechtes Beispiel? Oder gerade deswegen ein großartiges Vorbild, weil sie keinerlei Vorurteile pflegt? Weil sie sie liebt und akzeptiert mit all ihren Eigenheiten - und vorlebt, wie man sich Freiräume schafft? Weil sie Nächstenliebe zeigt in einem hostilen Umfeld, selbst vor den Menschen, die tagsüber hinter vorgehaltener Hand tuscheln und nachts weinend in ihrer Küche sitzen, stundenlang? Denn eines kann Glass: zuhören und Ratschläge geben. 

Ein Jugendroman definiert sich dadurch, dass darin vor allem Jugendliche vorkommen, schreibt der Autor Andreas Steinhöfel. Doch was diesen Roman auszeichnet ist, dass sich darin alle Erwachsenen mit wenigen Ausnahmen wie unreife Kinder verhalten. Denn Erwachsensein bedeutet, dass man für sein Handeln auch die Konsequenzen trägt. Doch die „kleinen Leute“, wie Glass die spießbürgerlichen Stadtbewohner nennt, „mögen erwachsene, machtvolle Entscheidungen treffen“, so Steinhöfel, „benehmen sich aber angesichts des damit womöglich angezettelten Unheils plötzlich wieder wie ein Kind, das die Hände vor die Augen schlägt, weil es etwas Dummes angerichtet hat: Was ich nicht sehe, existiert nicht, und wenn ich keinem davon erzähle, kann mir nichts passieren.“ Mit einer Auster, die in einer fest verschweißten Schale lebt, vergleicht er diese Menschen, die von anderen Austern dieses Verhalten gelernt haben: sich Zweifel und Angst nicht anmerken zu lassen. „Visible“ hingegen ist im Vergleich dazu ein „buntes Korallenriff“, an dem „stürmisch anbrandende Wellen erst für Leben sorgen und sich so mancher exotische Fisch einfindet.“ Aber ganz sicher keine Austern.

„Die Mitte der Welt“, Andreas Steinhöfel, Carlsen Verlag, ISBN 978-3-551-31101-6, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion,www.goethe.de/bukarest


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.