„Wir hatten nicht: Playstation, Nintendos, X-box, 200 Fernsehsender, Videos, DVDs, Dolby-Surround-Sound, iPods, eigene Fernseher, PCs und Internet, Jahreskarten im Fitness-Club, Handys … Wir hatten Freunde.“
So endet die lange Liste all dessen, was die vor 1978 Geborenen im Vergleich zu den Nachkömmlingen nicht hatten. Die Powerpoint Präsentation ist darauf zugespitzt, dass die in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren Geborenen Helden sind, weil sie überlebt haben, ohne mit Sicherheitsgurt und Airbag im Auto zu fahren, ohne Helm Fahrrad fuhren, Bauklötze in den Mund steckten, die mit Cadmium-haltigen Farben gestrichen waren, Schmalzbrot aßen usw. Es sind aber auch die Jahrgänge, die sich um Radios kauerten und den Drehknopf für die Senderwahl betätigten um die aus Westeuropa ausstrahlenden Sender reinzubekommen, die Rock und Blues ausstrahlten. Es sind die Generationen, die sich bei Freunden zusammenscharten, um eine mit schwerer Müh erstandene Vinylplatte einer angesagten Truppe andächtig zu hören und zu kommentieren. Mitglieder dieser Generationen – und einige wenige Jüngere – füllten vom 23. bis 25. Februar den recht verkommenen, zugigen Stadthaussaal in Schäßburg/Sighişoara. Da fanden die Konzerte des Blues Festivals statt. Die Fans kamen aus allen Landesteilen und belagerten die zu dieser Jahreszeit ansonsten ausgestorben wirkende Kleinstadt.
Nostalgien der Jugendzeit
Es ist das Genre Musik, mit dem wir aufgewachsen sind und das die Nostalgien unserer Jugendzeit darstellt, antwortete Aurel Haţieganu, genannt Relu, auf die Frage, warum Blues. Seit nunmehr acht Jahren veranstaltet er zusammen mit Ioan Lazăr, bekannt als Jo, das Blues Festival. Der Freiberufler und der erfolgreiche Hotelier (Jo ist unter anderem der Verwalter des Hotels „Sighişoara“ und von „Casa Fronius“ auf der Burg) leisten sich eine Liebhaberei. Und machen damit Gleichgesinnten eine Freude. Trotz Sponsoren und finanzieller Beteiligung von Seiten der Stadt konnten die Einnahmen die Ausgaben nur in einem Jahr decken. Die ansonsten roten Zahlen werden aus dem eigenen Budget gedeckt.
Offizieller Veranstalter des Festivals ist der Kulturverein „Blues Hospital“. Die Idee, die hinter diesem eigenartigen Namen steckt, erläutert Relu folgendermaßen: Das Hospital ist der Ort, an dem man von irgendwas geheilt wird. Wir bieten den Blues-Süchtigen die Möglichkeit an, nach Schäßburg zu kommen um sich zu heilen. Oder sich zumindest zu behandeln.
Der Blues ist, so Wikipedia, eine vokale und instrumentale Musikform, die sich in der afroamerikanischen Gesellschaft in den USA am Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. Barack Obama machte ihn kürzlich präsidentenfähig. Die Bezeichnung des Genres leitet sich von der bildhaften Beschreibung „I’ve got the blues“ bzw. „I feel blue“ (ich bin traurig) ab. Das Blues-Gefühl kommt in nicht allzu großen Sälen, in einer Atmosphäre der Intimität, besser zum Ausdruck als in Freilichtkonzerten (es sei denn, es musizieren Janis Joplin oder Jimmy Hendrix). In dem rund 500 Plätze fassenden Stadthaussaal und den Jam Sessions im Weinkeller des Hotels auf der Burg der kleinen Stadt kommt jedesmal eine Blues-Atmosphäre auf, selbst wenn diese Musik eigentlich mit dem mittelalterlichen Ort nichts gemein hat.
Beim ersten Festival 2005 sowie 2006 spielten und sangen an jedem der drei Abende drei Bands und die kamen alle aus Rumänien. Darunter befanden sich Nightloosers und Bega Blues Band. Seit 2007 wurden pro Abend zwei Konzerte geboten. In jenem Jahr waren unter anderem A.G. Weinberger, Harry Tavitian und Vali Răcilă dabei und es standen die ersten ausländischen Gäste auf dem Programm. Ab 2008 überwogen die Ausländer und in jenem Jahr holten die Veranstalter die ersten zwei Größen des amerikanischen Blues an die Große Kokel: Corey Harris und Sugar Blue. In Rumänien gibt es wenig Künstler, die sich dem Blues verschrieben haben und die hatten wir bald alle durch, sagte Haţieganu. Wir waren und sind bemüht, die Qualität des Festivals von Jahr zu Jahr zu steigern. So wie der Skilauf von und mit Österreichern promotet wird, finden wir es selbstverständlich, den Blues von und mit Amerikanern bekannt zu machen. Auch soll bei jeder Ausgabe eine Vielfalt an Blues-Arten gespielt werden, vom traditionellen und Delta-Blues zu Bluesrock und Jazzblues. Das Konzept der Veranstalter ist bisher aufgegangen. Einen Monat vor Festivalbeginn waren die Karten zu 75 Prozent verkauft. Bei den Konzerten hatten viele nur mehr Stehplatz.
Umgängliche Legenden
Was das Budget angeht, streckt man sich jedes Jahr nach der Decke. Sehr viel teurer sind die Amerikaner als die hiesigen Künstler jedoch nicht, ja gar überraschend „billig“ im Vergleich zu Musikern anderer Genres. Die Bluessänger sind bescheidene, umgängliche Menschen, die ihre Instrumente selber schleppen, mit denen man sich problemlos auf Du und Du verständigen kann, so Haţieganu. Das war auch Ende vergangener Woche festzustellen: die Musiker mischten sich unter das Publikum, gaben bereitwillig Autogramme und fotografierten sich mit den Fans. Neben den Jam Sessions gab es ein Blues-Guitar-Seminar mit Bob Brozman im Rathaus.
Das Rathaus fördert neben anderen Sponsoren der Stadt seit einigen Jahren das Festival, weil festgestellt wurde, dass das Image der Stadt promotet wird. Ansonsten bestreiten die beiden Hauptveranstalter den gesamten Arbeitsaufwand selbst. Relu Haţieganu ist für den künstlerischen Teil zuständig, vom Auswählen, Einladen zum Promoten der Künstler, und Jo Lazăr organisiert das Abholen, Unterbringen und erneut zum Flughafen bringen der Artisten. Das Festival findet jeweils am letzten Februarwochenende statt, weil es der Monat ist, in dem sich die Leute nach den Winterfeiertagen langsam wieder ein Event wünschen. Und weil es dann leichter ist, Künstler zu bekommen, weil die Flugtickets billiger sind und weil der Stadt, die im Sommer und Herbst Hauptsaison hat, ein wenig Animation auch zum Jahresanfang nicht schadet. Das Publikum kommt zu 75 bis 80 Prozent von auswärts, der Rest sind Schäßburger. Viele haben bereits ihre Standardplätze im Saal. „Es kommen Blues-Liebhaber, informierte Leute, weswegen der Standard beibehalten werden muss, denn diese Fans kann man nicht an der Nase rumführen“, so Relu Haţieganu. Das hat man offensichtlich geschafft: von Jahr zu Jahr kontaktieren die Veranstalter mehr Impressariate von Blues-Künstlern aus den USA und der ganzen Welt mit Angeboten.
Am Eröffnungsabend am Donnerstag war der Saal bislang meist halbleer. Heuer stand das Highlight des Festivals – Blues-Legende Johnny Winter – am Programm. Der Saal war voll und im Publikum waren auch bekannte rumänische Musiker zu sehen. Ansager Berti Barberas sagte, für viele Fans geht ein Traum in Erfüllung. Nach dem Auftritt meinten manche, sie hätten es lieber beim Traum belassen sollen. Der gebeugte Mann wurde auf die Bühne geführt, routiniert spielten er und die Band die Stücke runter. Erst als Bluesman Vali Răcila eine Torte überreichte – Johnny Winter beging am 23. Februar seinen 68. Geburtstag – und der Chor der über 600 Fans „Happy Birthday“ anstimmte, sprang der Funken aufs Publikum richtig über und es gab zwei Zugaben.
Den Abend eröffnet hatte Samuel James, der mit seiner Akustik-Gitarre und dem Absatz des linken Schuhs Geschichten in alter Blues-Manier erzählte. Am letzten Festivalabend traten zunächst Bob Brozman und danach Corey Harris & Rasta Blues auf. Und bewiesen einmal mehr, wie vielseitig der Blues sein kann.
The Ladys Night
Seit 2010 ist der zweite Festivalabend eine „Ladys Night“, bei dem Bluessängerinnen im Vordergrund stehen. Im knappen, roten Mini und in Highheels kam die blonde Samantha Fish am Freitagabend auf die Bühne und legte sich zusammen mit ihren zwei Bandmitgliedern ins Zeug. Spätestens beim Klassiker „I put a spell on you“ hatte die stimmgewaltige junge Lady und ausgezeichnete Gitarristin das Publikum gewonnen. Im Programm der Lady’s Night stand sodann Shakura S’Aida, eine in den USA geborene, in der Schweiz aufgewachsene und in Kanada lebende Blues- und Jazz-Sängerin mit arabischen Wurzeln. Vom ersten Augenblick ihres Erscheinens auf der Bühne war klar, welche Power die Lady in sich birgt. Mit der Zugabe „Brown Sugar“, dem Titelsong des letzten Albums, brachte sie das Publikum zum Mitsingen und -tanzen. Trotz dessen Durchschnittsalter um die 45. Zu den Ladys des Abends muss auch Gitarristin Donna Grantis dazugezählt werden, deren Virtuosität den Auftritt von Shakura S’Aida unterstützte.
Relu Haţieganu sähe es gern, im kommenden Jahr erneut eine „Blues-Legende“ nach Schäßburg zu holen. Noch aber getraut er sich nicht eine „Blues-Legend“-Serie zu starten, da man nicht abschätzen kann, ob die Finanzen eine solche dann auch in den nächsten Jahren erlauben werden. Mit oder ohne Legenden auf der Bühne ist das Blues Festival in Schäßburg unter Fans zur Legende geworden.