Die aus dem siebenbürgischen Hermannstadt stammende und seit den frühen 1980er Jahren in Deutschland lebende Autorin wählt mit ihrem ungewöhnlichen Roman eine besondere narrative Form. Vier Erzählungen, jeweils durch ein Geleitwort gekennzeichnet, bündelt sie zu einem Roman, der das leidvolle Schicksal dreier Generationen aus dem deutsch-rumänischen Siedlungsraum seit 1918 umreißt. Es ist eine epische Herausforderung, die durch den Einsatz einer auktorialen Erzählerin bewältigt wird und dennoch Leserinnen und Leser bei ihrer ersten Begegnung mit einem Stoff verwirren mag, der aus Kriegsgeschehen, Vertreibung, Vergewaltigung, Armut und Auswanderung gewebt ist. Diese souveräne Erzählerin, die auch die Quellen ihrer Inspiration am Ende des Romans freimütig nennt, bewegt ihre Figuren über einen Zeitraum von über siebzig Jahren, angefangen mit Jacob, einem Offizier der Mittelmächte. Es ist Herbst 1916. Das Königreich Rumänien tritt auf der Seite der Entente-Mächte Russland/Frankreich/England und Italien in den Krieg und die Heeresleitung der k.u.k.-Armeen schickt ihre Truppen an die eben entstandene rumänische Front unweit der Ostgrenze von Siebenbürgen, das damals noch zum Königreich Ungarn gehörte.
Als Vorlage zu dieser Erzählung, so die Autorin, habe sie das „Rumänische Tagebuch“ von Hans Carossa benutzt. Die vergleichende Lektüre bestätigt es: Der Tagebuchschreiber, Arzt und Offizier wird am 13. Oktober 1916 mit seiner Truppe von der französischen Front abkommandiert, um die drohenden Lücken an der neuen südöstlichen Front zu schließen. Auch Jacob befindet sich zu Beginn des Romans in einem Militärzug auf dem Weg an die rumänische Front. Die erzählte Zeit scheint sich beim Vergleich der beiden Texte anzunähern, wenn es nicht die souveräne Erzählerin gäbe, die ihren Figuren eine eigenständige Prägung verleiht und den Plot ihrer Handlung in eine bestimmte Richtung treibt. Am Ende der ersten Erzählung wird Jacob während einer Waffenruhe von einer feindlichen Kugel tödlich getroffen, ohne zu wissen, dass er der Vater jener Henriette war, die in der zweiten Erzählung im Haus ihres Großvaters und ihrer Mutter Alma aufwächst.
Eingeleitet durch den Spruch „diese Welt wird vergehen, die dir jetzt die Mitte des Lebens ist“, erfährt der Leser vieles aus der Lebenswelt von Lilli, Anna und Luise, erhält minutiöse Einblicke in deren alltägliche Sorgen und Freuden, wird eingeweiht in ihre geheimen Wünsche. Mehr noch: die auktoriale Erzählerin kreist um die innere Welt ihrer Figuren, spricht über deren Lebensziele, nur bei Henriette zögert sie. Zu eigenwillig ist sie, die die Neugier und sicherlich auch die Begierden der Nicht-Verheirateten aus der dörflichen Gemeinschaft hervorruft. Und sie ist meistens einsam, was ihre Mutter im Hinblick auf Henriettes häufige geistige Abwesenheit mit dem Spruch „Sie tut eben so, als ob es regnet“ kommentiert.
Die dritte Erzählung mit dem Metapher geladenen Titel „Eine Zitrone im All“, die Henriettes Sohn Vicco und dessen Freundeskreis in Hermannstadt gewidmet ist, bewegt sich im zeitlichen Rahmen der frühen 1970er Jahre. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist getrübt, was die Erzählerin mit dem Hinweis auf den fehlenden Vater und eine Vergewaltigung zu erklären versucht. Der an dieser Stelle des Generationen-Romans fehlende Verweis auf den Verursacher ist auf die diskrete Enthüllungsstrategie der auktorialen Erzählerin zurückzuführen. Nicht zuletzt gibt es in diesem sorgfältig konstruierten Plot lediglich eine von dialogischer Rede bestimmte Textstelle, in der Henriette und ihr Sohn zu den Quellen ihres gegenseitigen Misstrauens vorstoßen – kurz vor der Ausreise Henriettes nach Deutschland.
Doch es sind nicht nur „sprechende Momente und Details“ (Denis Scheck), die diesen mit feinen semantischen und syntaktischen Fäden gefügten Roman mit wachsender Spannung und Erwartung lesenswert machen. Es ist vor allem der von der Erzählerin geschickt gewählte Perspektivenwechsel zwischen der Innen- und Außenwelt der Protagonisten, der das Band des erzählerischen Quartetts locker und zugleich angespannt flattern lässt. Es offenbart auch Einzelheiten über die Deportation von vielen Tausend Banater und Siebenbürger Bürgerinnen und Bürger 1945 in die Kohlengruben des ukrainischen Donezbeckens, veranlasst von der sowjetischen Militärverwaltung. Diese auch von der jüngsten deutschsprachigen Emigrations-Literatur historisch belegten Fakten bilden den Kern der vierten Erzählung, in der Hedda, die Tochter von Vicco, die Aufzeichnungen ihrer Großmutter Henriette entdeckt.
Ein Generationen-Roman also, der mit einem Zitat von Hermann Lenz auf die Reise geschickt, in der Zwischenzeit wachsende Anerkennung nicht nur von Lesern gefunden hat, die ihre Kulturen und Sprachen übergreifende persönliche Vergangenheit aufarbeiten wollen. Sie werden auch angezogen von den sprachmächtigen Bildern ihres ehemaligen Siedlungsraums, mit denen die Erzählerin brilliert. Doch damit nicht genug. Die zahlreichen Protagonisten besitzen ein hohes Maß an Authentizität und Dialogizität, die durch den ständigen Wechsel der erzählerischen Perspektive entsteht. Ein Glückwunsch nicht nur an die Autorin, sondern auch ein Glücksfall für die jüngere deutschsprachige Prosa, der es im Gegensatz zu diesem Roman oft an spannenden Sujets mangelt. Und nicht zu vergessen die attraktive Gestaltung des Buchumschlags nach der Vorlage von Maerdad Zaeri!
Iris Wolff: „So tun, als ob es regnet“. Roman in vier Erzählungen. Salzburg-Wien, Otto Müller Verlag 2017, 2. Aufl., 166 S., ISBN 978-3-7013-1250-4.