Neben mir stehen und liegen im Gras Bildhauerwerke, Köpfe oder angedeutete Körper und Torsen, auf der Wiese, dem kleinen Mäuerchen, dahinter blühen bunte Frühlingsblumen. Palmen und Zypressen, Pinien und andere exotische große Pflanzen und Sträucher geben leichten Schatten. Unten im Tal reihen sich Kalksteine an Kalksteine, im Abendlicht leuchten die Steine orange, die Sonnenstrahlen lassen das Mittelmeer schimmern, bald wird die Sonne an der levantinischen Küste untergehen und ins Meer fallen. Die Stimmung - eine Inspiration für mich, ein Paradies für Silvia Berg, in dem sie seit vierunddreißig Jahren lebt und nicht mehr weg möchte.
Drüben auf der anderen Seite der ansteigenden Straße thront in einem Nest das Künstlerdorf Ein Hod. Vage erinnere ich mich an meinen ersten Besuch vor Jahren mit Hedwig Brenner, der Lexikographin, noch viele Besuche folgen in den Jahren. Bei Silvia bin ich vor langer Zeit das erste Mal zu Gast und direkt führt sie mich durch den Ort, wo noch immer hier und dort Skulpturen von Tuvia ihren festen Platz haben. Den einen oder anderen Künstler begrüßt sie, kennt die Atelierbewohner. Im großen Ausstellungsraum im Ort sind Werke von Künstlern aus Ein Hod zu sehen, das Amphitheater ist erneuert worden.
Die Skulpturen von Tuvia Iuster empfangen mich hier im Karmelgebirge alljährlich ganz selbstverständlich. Tuvia habe ich nicht kennengelernt, seine Skulpturen überleben und umgeben das Leben von Silvia Berg, der jahrelangen Gefährtin in dieser traumhaften Landschaft, wo die Welt weit weg ist, Kunst und Ruhe eine Einheit sind.
Tuvia kommt aus Br²ila in der Großen Walachei im Südosten von Rumänien, wird dort 1931 als zweites Kind in eine jüdische Familie geboren. Mit vier Jahren wird er mit den Eltern nach Bukarest umziehen. Er folgt 1959 Marcel Janco, dem Dadaisten und Architekten in diese versteckte Gegend Israels.
Marcel Janco (rum. Iancu) ist ebenfalls aus Rumänien, wird 1895 in Bukarest in eine moderne assimilierte jüdische Familie als erstes Kind geboren. Der Vater Hermann Zui Iancu ist ein wohlhabender Kaufmann, die Mutter Rachel eine geborene Iuster aus der Republik Moldau. Weltoffen wird Marcel erzogen, bereits mit den Eltern reist er als Kind, lernt andere Länder und Kulturen kennen. Er bezeichnet sein Elternhaus als ein Klima der Freiheit. Als junger Mensch macht er sich auf den Weg in die Schweiz, Er und seine Brüder entkommen dem Ersten Weltkrieg in Rumänien.
Um die Jahrhundertwende begegnet er Künstlern und Weltenbummlern auf dem Monte Verita in Ascona, oberhalb des Lago Maggiore. Ausbrechen wollen die jungen Leute aus der bürgerlichen Welt, sie umkrempeln, ihre Ideen verwirklichen, sich nicht zügeln lassen, ein freies künstlerisches, kreatives Leben stellen sie sich vor. Dort beginnt bereits Marcels künstlerische Phase, der Grundstock des Dadaismus wird gelegt und später in Paris fortgesetzt. Mit Hugo Ball, Emmy Hennings, Tristan Tzara, Hans Arp und anderen Künstlern gründet er in Zürich das Cabaret Voltaire. Marcel Janco ist mitten im Geschehen. Architektur wird er in Zürich an der bekannten ETH studieren.
1919 verlässt Marcel die Schweiz, wird über Paris nach Bethune in die Nähe von Calais gehen. Dort lernt er die Schweizer Tänzerin Amelie Ackermann, „Lily“ genannt, kennen. Amelie und Marcel heiraten, sie eine Katholikin, er ein Jude. Marcels Vater ist nicht sehr glücklich über die Heirat. Das Paar geht nach Rumänien, nach Bukarest in Marcels Heimat. 1926 wird die Tochter Josine geboren. Josine Janco-Starrels stirbt 2019 in Oregon/USA.
In Bukarest schließt Janco sich der Avantgarde an, entwirft und baut Häuser im modernen Stil, 1927 soll er das modernistischste Haus gebaut haben, sensationell, so etwas kannte man nicht zuvor. Die Ehe lief schief, das Ehepaar trennt sich 1930. Marcel baut Amelie und der Tochter in Kronstadt/Brașov ein Haus in seinem Stil, wo die beiden ein sehr gutes Zuhause bekommen.
Nach Bukarest 1922 zurückgekehrt wird der Architekt Marcel Janco zwanzig Jahre lang im Paris des Ostens moderne Gebäude, angelehnt an die damals aktuelle Gebäudeform des Bauhauses, erfinden und bauen. Villen im französischen Stil sind Nachbarn. Der große Boulevard Magheru durchzieht das Zentrum von Bukarest, wird abgerissen und im zeitgenössischen modernen Baustil neu erbaut. Architekten aus Frankreich sind auch dabei und der berühmte rumänische Architekt Horia Creangă. Heute sind die Gebäude leicht verrottet, doch auch sanierte Schönheiten sind Lichtblicke aus den 30er Jahren.
Marcel Janco hat seinen eigenwilligen modernen Stil in den 1920er Jahren entworfen, baut weit über zwanzig private Villen und einige öffentliche Gebäude, Wohnblocks und ähnliches. Noch heute sind diese architektonischen modernen Villen und Häuser zu sehen. Als Maler ist er in der Zeit ebenfalls aktiv.
Sein Leben lang werden die Begriffe Modernismus, Expressionismus, Konstruktivismus und Surrealismus, Funktionalismus, Kubismus, Dadaismus und andere zum Symbol von Marcel Janco. Er reist zu Kongressen, schreibt, illustriert, gründet Zeitschriften, entwirft und baut, Stadtplanung beschäftigt ihn, er möchte aus Bukarest eine moderne Stadt machen, das Durcheinander ordnen mit neuzeitlicher Architektur, das Alte reduzieren. Die Stadt ist durchsät von unterschiedlichen Stilen. Belle Epoque, viel Art Deco, auch Gotik und Barock stehen in Bukarest nebeneinander, alles, was damals in Frankreich, in Paris, in Mode war. Bukarest wird nicht ohne Grund Klein Paris des Balkans genannt. In den 1930er Jahren kommt die Moderne hinzu. Der Magheru, die Tangente in Bukarest, wird fast vollständig abgerissen und die Moderne, die auch Marcel Janco entwirft, bestimmt bis heute den wichtigen und bekannten Boulevard bis hinein in die Seitenstraßen. Bukarest bezeichne ich als einzige Hauptstadt Europas mit diesem modernen Stadtbild.
Clara Goldschlager, „Medi“, aus Bukarest wird Marcels zweite Frau, Deborah Theodora, die Tochter „Dadi“ wird geboren. Ein exklusives Leben führt das Paar, reist durch Europa und genießt die Zeit, die noch in Ordnung scheint. Bald taucht die Eiserne Garde auf, selbst von Freunden kommen antisemitische Parolen. Auch in Rumänien beginnt die Judenverfolgung, Schlägertypen sind unterwegs, 1941 findet das Pogrom in Bukarest statt. Juden werden erschlagen oder an den Fleischerhaken im Schlachthaus aufgehängt. Erst danach beginnt der Wettlauf mit der Zeit und Marcel Janko reist mit Frau und Tochter nach Palästina und siedelt sich in Tel Aviv an.
Mit dem bekannten Bauhausarchitekten Arieh Sharon arbeitet Janko zusammen, konzipiert nationale Parkanlagen in ganz Israel, plant und baut Alt Jaffa zu einer Künstlerkolonie um.
Ein Hod bedeutet „Quelle des Ruhms“ und ist ein sehr altes arabisch-palästinensisches Dorf unweit von Haifa. 1948 kommt die Katastrophe. Es wird scharf geschossen zwischen den arabischen Dorfbewohnern und den Israelis, Jagdbomber israelischer Einheiten werden eingesetzt. Unter Todesdrohungen vertreiben die Israelis die arabischen Familien aus ihren Häusern, wo sie seit hunderten von Jahren zuhause waren. In Flüchtlingslagern in angrenzenden Ländern landen viele von ihnen. So mancher Nachkomme lebt noch heute in einem dieser menschenunwürdigen Lager. Eine kleine Gruppe baut oberhalb vom alten Dorf ein neues Dorf Ayn Hawd al Jadida, das erst Jahrzehnte später vom israelischen Staat anerkannt wird. Auch einige andere Dörfer in der Umgebung haben das gleiche Schicksal.
Ein Hod muss man genießen, sich Zeit lassen, die Kunst, die Ruhe, fern der Unruhen und Probleme, fern der derzeitigen Demonstrationen gegen das undemokratische Vorgehen der Regierung...Hier und da in ein Atelier schauen, 70 Künstlerinnen und Künstler sollen hier im Ort Ateliers und ihr Zuhause haben.
Etwas abgelegen wohnt die Künstlerin Daniela Borchard. Ihre großformatigen farblich interessanten Landschaftsbilder sind mir in Erinnerung geblieben, ebenfalls ihr umtriebiges lebendiges Wesen und der große schwarze Hund, der mich an der Tür vor neun Jahren empfing. Auch erinnere ich mich an den schönen Blick durch die großen Fenster in ihren Garten. Daniela ist in Israel geboren worden, besucht Schulen in England, studiert Kunst in Haifa und in den USA. Sieben Kinder zieht sie in Ein Hod groß und ihre künstlerischen Werke schuf sie in diesem Künstlerort. Von ihrem Ehemann, dem Architekten Ratner, trennte sie sich. Sie ist die Enkeltochter von Lucy Borchardt, der berühmten jüdischen Hamburger Reederin, die mit ihrem Sohn Kurt in der fortgeschrittenen Nazizeit mit drei Schiffen nach London geht und deren ältester Sohn Jens bereits Anfang der dreißiger Jahre in Palästina die Reederei Atid Navigation Company in Haifa mitbegründet.
Jens Borchardt ist der Vater und Renate Behrendt die Mutter von Daniela. Der Großonkel von ihr, der Ägyptologe Ludwig Bor-chardt, findet 1912 die Nofretete in Mittelägypten bei Grabungen und bringt sie nach Deutschland. Das Grabungsunternehmen finanziert Henri James Simon aus Berlin, einer der bedeutendsten jüdischen Mäzene seiner Zeit und schenkt die Portraitplastik dem Ägyptischen Museum in Berlin.
Wie vorhin erzählt, kommt Tuvia Iuster 1959 in Ein Hod an. Tuvias Großmutter ist eine geborene Tschaikowski und gelangt nach dem Ersten Weltkrieg von Polen in das neugegründete Großrumänien. Tuvia studiert später in den 1950er Jahren an der Bu-karester Kunstakademie Bildhauerei und Malerei. 1947 ist das Königreich Rumänien beendet, König Michael I. aus dem Hause Hohenzollern–Sigmaringen muss das Land für immer verlassen. Der Kommunismus breitet sich wie ein Flächenbrand sehr schnell im Land aus. Die politische Situation in Rumänien hat sich verschärft, Tuvias Eltern verlassen den kommunistischen Staat und reisen nach Israel aus. Tuvia wird noch einige Abenteuer in seinem Geburtsland erleben, auch soll er zum Militär. Er verlässt das Land und siedelt sich 1959 in Ein Hod, in der Nähe von Marcel Janco, an. Das gewesene arabische Schulhaus mit den dicken Mauern wird seins. Elektrisches Licht installiert er und Wasserleitungen legt er bis ins Haus, in dem er fast 46 Jahre bis zu seinem Tod wohnen wird. Martha, die amerikanische Künstlerin, wird seine Partnerin, Tuvia und Martha gehen zusammen ein Jahr in die Vereinigten Staaten im Trubel und Dunstkreis von Woodstock, kehren zurück nach Ein Hod und bekommen zwei Kinder. Jahre später gehen Martha und Tuvia getrennte Wege, sie verlässt ihn und ihre Kinder und wird in Montana in den USA leben, wo sie vor einem Jahr gestorben ist. Silvia Berg aus Argentinien, die studierte Krankenschwester, wird Tuvias Gefährtin. Silvia wohnt noch heute in dem alten arabischen Haus, umgeben von Tuvias Kunstwerken und vielen Erinnerungen an ihn, den Bildhauer. Keinen Tag ihres Lebens mit Tuvia möchte sie missen. Durch Höhen und Tiefen geht sie mit ihm, dem rumänischen Künstler, dessen Nachlass sie pflegt. Auf dem nahegelegenen Dorffriedhof im karstigen Gebirge wird Tuvia Iuster, der Künstler, 2005 begraben. Die Bildhauerarbeit auf dem Grab hat er künstlerisch gestaltet. Die gleichen Hände aus Marmor formt er Jahre zuvor für den Freund Marcel Janco, der 1984 in Tel Aviv beerdigt wird.
Ich erfahre, dass Iuster ein Verehrer von Constantin Brâncu{i ist, der fast sein gesamtes Leben in Paris verbringt. In der Kleinen Walachei in Hobi]a wird Brâncu{i geboren und 1957 in Paris beerdigt. Iuster ist nicht nur Verehrer, auch inspirieren lässt er sich von dem modernen Kunststil des Älteren. Ab September 2023 werden Skulpturen von Brancu{i, der zum Franzosen wurde, in Temeswar ausgestellt. Einen besseren Ausstellungsort kann es kaum geben. Temeswar im Banat, Kulturhauptstadt Europas 2023, unweit des Heimatortes von Brâncu{i. Auf einer rumänischen Briefmarke ist sein Konterfei zu sehen.
Zurück in den Ortskern von Ein Hod gehen wir, wo Marcel Janco, der Architekt, aus Kalkstein 1983 ein formal und landschaftsgerecht entworfenes Museum neben seinem Wohnhaus baut. Erinnerungen an den berühmten Mitbegründer des Dadaismus sind aufbewahrt und ausgestellt. Musik, Gesang und Literatur werden von Janco in seiner abstrakten Malerei umgesetzt. Farbenfroh und natürlich strahlen die aufgehängten Bilder aus unterschiedlichen Epochen von den Wänden, ebenso sind einige seiner Keramiken ausgestellt. An der Stirnwand sind Fotos mit ihm, seiner Frau und seinen Künstlerfreunden aus aller Welt mit informativen Erklärungen zu sehen. In der Bibliothek treppauf ist Literatur über den Künstler und seine Zeit zu finden. Architekturmodelle aus den zwanziger bis vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts aus seiner Bukarester Zeit kann man umrunden und die Beschriftungen lesen. Moderner konnte damals kaum gebaut werden.
Eine traurig aussehende Landschaft mit verkohlten Baumstümpfen empfing mich vor Jahren am Ortsrand von Ein Hod. Der Großbrand im Karmelgebirge, der 2010 wütete, hat Bäume und Sträucher niedergebrannt, die Vegetation zum größten Teil zerstört, Menschen sind grausam verbrannt, alleine 44 Personen in einem Bus konnten nicht gerettet werden. Der Brand schlängelte sich bis nach Ein Hod, bis an die Atelierhäuser. Schwarze Baumstümpfe waren noch Jahre danach zu sehen, sogar schwarze Hauswände im Ort.
„Kühl im Sommer, stürmisch im Winter ist der Karmel. Hier oben gibt es große Zypressen, Bougainvilleen ranken sich um die Häuser, mächtige Geranienbüsche zwischen Steinen. Hier auf großen Terrassen in warmen Sommernächten, ist die Wüste ganz fern und das Mittelmeer ganz nah, glänzt der Mond, sieht man die Lichter der Schiffe leuchten, die dies Land, ob es will oder nicht, verbinden mit anderen Ländern, und fallen Sterne aus der Unendlichkeit“. So schrieb Gabriele Tergit 1933 in ihrem Buch „Im Schnellzug nach Haifa“, Transit Buchverlag, 1996.