Worte haben nur dann Sinn, wenn sie von schönen Augen gelesen werden. Diese Augen gibt es. Es sind die zauberhaften Augen eines Mädchens aus Venezuela. Unterwegs zu einem Kongress für Hotel- und Touristik-Marketing kreuzten sich unsere Wege am Frankfurter Flughafen, dem einzigen Ort der Welt, wo ich sie an jenem Dienstagabend hätte treffen können. Aus Korea kommend – mit Ziel Caracas, Venezuela – suchte sie den Shuttle-Bus zum Hotel, um dort die Nacht bis zum Weiterflug zu überbrücken. Kaum zu glauben, doch solche Fügungen gibt es wirklich: Sie logierte im selben Hotel wie ich!
Nein, sie spricht kein Englisch, sie mag es nicht. Nun ja, diese Sprache lernt man aus Notwendigkeit, Spanisch hingegen, weil man es liebt. Ja, ich liebe diese ihre Sprache, die bei ihr wie ein Lied klingt, und ihretwegen liebe ich auch sie. Und ihrer schönen Augen wegen. Und wegen ihrer Tätowierung auf der Brust, in deren Geheimnis sie mich später einweihte.
Dann, im Pub des Hotels gab es nur noch Ninfa und mich. Ich vertiefte mich mit Leidenschaft in die spanische Sprache (castellano, nicht español, worauf sie bestand), verlor mich darin, aber sie fing mich immer wieder auf, wenn ich aus der Bahn geriet. Ich gehorchte ihr aufs Wort, wenn sie mir dann korrigierend befahl: ¡Dígalo! – Sag es! Und ich akzeptierte bedingungslos: Sie ist meine authentische Spanischlehrerin. Ja, Ninfa, lehre mich! Spanisch oder castellano – und alles, was du willst...
Als unsere Hände, unsere Knie sich wie zufällig berührten, war dazu kein Wort nötig. Nichts, was ausgesprochen werden musste. Nur der Zufall und das Glück, jetzt und hier zusammen zu sein. Und trotz des fehlenden antiken Gestades (ich erinnere daran, dass ihr Name Ninfa, die Nymphe, ist) entwickelte sich etwas, das ich nur feierlich als „Vereinigung“ bezeichnen kann. Meine Empfindungen lassen sich am besten mit den Worten Johannes Keplers, nachdem er die Gesetze der Planetenbewegungen entdeckt hatte, beschreiben: „Ich gebe mich meiner Wonne hin. Nichts, was ich je fühlte, ist diesem Augenblick gleich.“
So lies nun, Ninfa, mit deinen wunderschönen Augen, diese Worte und auch dieses kleine Gedicht, das ich dir in der Nacht rezitierte:
yes, yes en mal inglés / piano, piano en italianoyo te quiero, yo te amo / te lo digo en castellano
Danke, Ninfa, dass ich dich lieben darf, damit will ich mich begnügen, nicht fragen, was kommen wird, denn ich habe die Farbe deiner Augen und den Gesang deiner Sprache gewonnen. Kaum aber ist dieser Satz geschrieben, lehnt mein Herz sich auf: ¡Ámame! – Liebe mich! Denn ich lechze nach deiner Liebe. Dennoch will ich dich nicht haben, Ninfa, ich will dich nicht besitzen, kann und will dich niemandem wegnehmen. Du kannst mir nicht gehören, aber nimm dir von mir, was zu dir gehört. Du musst mich nicht lieben, aber beweg dein Herz. Ich will nur ein paar exklusive Anteile von dir, das ist alles. Schenke mir nur ein Prozent von dir – deiner Zeit, deiner Gefühle! Antworte nicht mit einem Nein, denn das könnte mich töten. Wenn du mich umbringen wolltest, wüsstest du jetzt, wie es ginge. Aber wisse, wenn Liebende auch fallen, die Liebe fällt nicht.
Wir redeten über Hugo Chávez und Simón Bolívar, die sie verehrte, über Liebe und Revolution und Utopien... Dann tanzten wir uns in den Morgen, die Nacht war kurz. Ein kleines Frühstück noch, ein langer Abschiedskuss. Werde ich sie wiedersehen? Ja, ich bin süchtig nach Ninfa und ihren Augen und ihrem schönen venezolanischen Sprachgesang. Aber schwang da nicht auch ein bisschen eine koreanische Melodie mit? Schon morgen werde ich die Flüge nach Caracas checken.
Doch das Tatoo, das ihre Brust ziert, erzählt eine andere, weniger romantische Geschichte: ein Blütentatoo, das eine Narbe umschließt, die von einer Schussverletzung bei einem bewaffneten Raubüberfall stammt. Die Täter bedrohten Ninfa mit einer Waffe und im Handgemenge um ihre Tasche und den Autoschlüssel löste sich plötzlich ein Schuss. Der Einschusswinkel war jedoch günstig, die Kugel durchbohrte ihre linke Brust – ein glatter Durchschuss –, sie erlitt aber keine schlimmeren Verletzungen. Ihrem Stolz und ihrer Schönheit konnte die Pistolenkugel nichts anhaben.
Siehst du, Ninfa, ich sagte dir, dass „El tatuaje de Ninfa“ (Ninfas Tatoo) ein großartiger Titel für eine Erzählung wäre, und nun habe ich sie selbst geschrieben, mi amiga venezolana, denn Worte haben einen Sinn, doch nur, wenn sie von schönen Augen gelesen werden. Wie glücklich du sein musst, Ninfa, so zu heißen und so auszusehen!
Es ist jetzt Mai und der Sommer liegt vor uns, wie ein Versprechen.