Rauschmittel sind hoffnungslos facettenreich – das zeigt sich auch in Andrei Oişteanus Buch „Narcotice în cultura română. Istorie, religie şi literatură“, das von Julia Richter ins Deutsche übertragen wurde und im Berliner Frank & Timme Verlag unter dem Titel „Rauschgift in der rumänischen Kultur. Geschichte, Religion und Literatur“ erschienen ist. Oişteanus Werk ist mehr als eine ausführliche Studie im Bereich der Kulturanthropologie und Mentalitätsgeschichte, die übrigens die erste ihrer Art in der rumänischen Kultur ist: Es ist eine mutige Initiative, Aspekte aufzudecken, die vom breiten Publikum abgelehnt werden. Diese Betrachtungsweise verändert (lies: bereichert) die Perspektive über die rumänische Literatur und die Literaten.
Es ist also von Bedeutung, dass so ein heikles Thema von einem qualifizierten Wissenschaftler behandelt wurde. Der im Jahre 1948 in Bukarest geborene Andrei Oi{teanu betätigt sich als Kulturanthropologe, Religions- und Mentalitätshistoriker. Sein bekanntestes Buch ist die Studie „Konstruktionen des Judenbildes: Rumänische und ostmitteleuropäische Stereotypen des Antisemitismus", die im Jahre 2010 im Frank & Timme-Verlag erschienen ist. Er ist Forscher am Institut für Religionsgeschichte der Rumänischen Akademie, Dozent am Zentrum für Hebräische Studien der Universität Bukarest und Präsident des Rumänischen Vereins für Religionsgeschichte. Seine Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt worden und in vielen Ländern weltweit erschienen. „Rauschgift in der rumänischen Kultur“ wurde als beachtenswerter Beitrag vom rumänischen Schriftstellerverband im Jahre 2011 mit einem Sonderpreis ausgezeichnet.
Unter Rauschgift versteht der Autor jede Pflanze oder Substanz, die den psychomentalen Zustand verändert – von Tabak, Kaffee und Tee bis zu Opium, Mescalin und LSD. Oişteanu übernimmt eine Kategorisierung von einem deutschen Pharmakologen, Louis Lewin, aus dem 20. Jahrhundert: Opium und dessen Derivate Morphium, Heroin, Kokain werden dem Konzept „Euphorica“ (Narkotika) untergeordnet, Mescalin und Cannabis gehören zu „Phantastica“ (Halluzinogene bzw. Entheogene). Alkohol, Ether und Chloroform fallen unter „Inebriantia“ (Inebrianzien) und Tabak, Kaffee und Tee unter „Exitantia“ (Stimulanzien).
Das 500 Seiten starke Buch verfolgt das Phänomen der Rauschmitteleinnahme von der Antike bis in die Gegenwart. Es wurde in zwei Teile strukturiert, die zweieinhalb Jahrtausende in zwei Perioden teilen. Das Buch beginnt in der Antike, untersucht später das Leben der Bojaren, fährt in der modernen rumänischen Kultur der Romantiker und Symbolisten fort, erklärt den Boom der Rauschmittel in der Zwischenkriegszeit und endet in der Gegenwart. Das Sachbuch wird von seinen Gestalten belebt – Dichter, Wissenschaftler, Künstler, die aus verschiedenen Gründen ihre Erfahrungen durch Rauschmittel erweitern.
„Der erste Teil des Buches sollte vorurteilsfrei betrachtet werden, nicht nur zum besseren Verständnis der rumänischen Volksbotanik und -medizin, sondern auch, um ein paar neue Aspekte der Magie, der Volksmythologie und Religionsgeschichte im rumänischen Raum zu entdecken“, meint der Autor in seinem Vorwort. Beschrieben werden hauptsächlich die religiöse und magisch-rituelle Verwendung von psychotropen Pflanzen. Die unabsichtliche Einnahme von Rauschmitteln in der Antike durch Honig, die Massenvergiftungen durch Roggenschnaps wirken gewissermaßen humorvoll. Hier werden u. a. Narkotika und Halluzinogene wie Tollkirsche, Alraune, Wein und Efeu, Opium, Haschisch und Tabak erwähnt. Der zweite Teil bezieht sich auf die „modernen“ Substanzen, die später Einzug in die rumänische Gesellschaft gehalten haben: Der Schwerpunkt liegt auf dem Rauschmittelkonsum verschiedener Intellektuellen aller Epochen. Es ist eine extrem gut dokumentierte, umfangreiche Analyse.
Gefährlich und rettend, Bewusstseins erweiternd und Nerven vernichtend, aphrodisisch und hemmend. Rauschmittel heben einen in eine Welt mit zahlreichen Dimensionen empor, nichtsdestotrotz sind sie Auslöser des Sinkens in die tiefsten menschlichen Abgründe. Die solide Pionierstudie dekonstruiert die Tabus gegenüber der Rauschgifteinnahme und der Autor erklärt die Gründe für diese Praktiken, darunter die Verbindung zwischen dem Rauschgift und seinem Benutzer: Gelehrte wie Nicolae Milescu, Dimitrie Cantemir, Johann Martin Honigberger oder Mircea Eliade erforschten die Verwendung der narkotischen Heilmittel im Orient, Wissenschaftler strebten danach, das Wissen über neuropsychiatrische Vorgänge zu verbessern (Ghe. Marinescu, Eduard Pamfil), indem sie psychoaktive Substanzen einnahmen. Manche untersuchten religiöse und magisch-rituelle Praktiken und die Rolle der dabei benutzten psychotropen Pflanzen. Auf ihrer Suche nach „künstlichen Paradiesen“ wollten Künstler bloß die ganze Welt vergessen oder ihre Vorstellungskraft stimulieren (Tristan Tzara, Ion Barbu). Viele Schriftsteller erzählen über (ihre?) Rauschgifterfahrungen durch die Stimme der Romanfiguren (Mateiu Caragiale, Mircea Cărtărescu); manche haben sich das Leben mit Opiaten genommen (Daniil Scavinschi, Alexandru Odobescu), andere haben berauschende Substanzen aus gesundheitlichen Gründen benutzt (Mihai Eminescu). „Ich wollte die Rauschmitteleinnahme aus verschiedenen Epochen nicht mit den moralischen Koordinaten unserer Zeit behandeln, die von der Pest der Rauschgiftsucht gekennzeichnet sind“, erklärte der Autor sein Vorhaben vor drei Jahren bei der Buchpräsentation.
Vom Kraut, das Kummer vertreibt, dem Beruhigungsmittel, das Empörung zügelt, den Spritzen, die der Angst ein Ende setzen, zur Tollkirsche als Freude der Nacht und zum täglichen Äther und wöchentlichen Kokain, zur Verwüstung durch Alkohol, LSD und Methamphetamine: Die Rauschgifterfahrungen der Schriftsteller und Künstler galten als geheim und waren mindestens mit Diskretion zu behandeln. Die Informationen, die Oişteanu liefert, entstammen aus verschiedenen Quellen: aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Versen oder literarischen Figuren der Schriftsteller. Im Licht der neuen Informationen, die überliefert werden, liest man die Werke von bekannten Autoren mit völlig neuen Augen. Es ist eine ganz neue, mehrdimensionale Welt, die beim Lesen entdeckt wird.