Alle zwei Jahre stehen Kinder und junge Leute Schlange vor den Sälen im Gewerkschaftskulturhaus in Hermannstadt/Sibiu. Alle zwei Jahre nehmen einige Dokumentarfilmbegeisterte aus dem ganzen Land im Herbst eine Woche Urlaub und verbringen die Tage und Nächte in dem eigentlich recht unfreundlichen Ambiente, mit Sandwiches und Thermoskannen ausgestattet. Alle zwei Jahre besteht nämlich die Möglichkeit, für wenig Geld (heuer waren es schlappe 80 Lei) über hundert Dokumentarstreifen zu sehen.
Nicht irgendwelche, sondern jene, die aus rund tausend, die aus aller Welt eingesandt worden waren, als die Besten auserkoren wurden. Anhand ihrer lernt man die Sorgen und Freuden in zahlreicher Herren Länder kennen. Und man hat die Möglichkeit, mit einem Teil der Filmgestalter über die in den Streifen angeschnittenen Probleme zu diskutieren. Wegen der internationalen Beteiligung werden die Debatten in Englisch und Rumänisch abgehalten. All das gab es beim Astra Film Festival (AFF), dessen elfte Ausgabe zwischen dem 25. und 30. Oktober stattfand.
Das Astra Film Fest
Was bei diesem Filmfest besticht, sind Freundlichkeit und Unkompliziertheit. Es gibt keinen roten Teppich, keine Stars, keine Allüren. Dafür aber nette junge Volontäre, die dafür sorgen, dass alles einigermaßen klappt. Die beiden Hauptveranstalter Csilla Kató und Dumitru Budrala waren rund um die Uhr im Einsatz und stets bemüht, mittels Konzerten und Rahmenprogramm eine angenehmen Atmosphäre zu schaffen.
Geboren wurde die Veranstaltung 1993 als Festival des anthropologischen und ethnografischen Films. Inzwischen gilt das Astra Film Fest (AFF) als das wichtigste, dem Dokumentarstreifen gewidmete Event in Rumänien. Als Kulturprojekt wurde das AFF zu Filmfestivals nach Paris bis Nowosibirsk eingeladen. Vom Hermannstädter Modell inspiriert, gründete der britische Dokumentarfilmer und Professor für visuelle Anthropologie Michael York das Open City London Documentary Film Festival.
Seit 2009 gibt es ein Sonderprogramm für Kinder, in dessen Rahmen Schulklassen zu Vorführungen von Filmen über Kinder eingeladen werden. Im Anschluss können sie an einem Zeichenwettbewerb teilnehmen – und ebenfalls prämiert werden. Beim AFF erhalten junge und weniger junge Filmer die Chance, bekannten Dokumentarfilmern in Workshops etwas von deren Handwerk abzukupfern.
Die Streifen der Studierenden – die in einer separaten Sparte wetteifern – sind oftmals schon sehr professionell.In jedem Jahr werden natürlich auch Preise vergeben. Viele der Teilnehmer sind jedoch der Ansicht, Dabeisein ist wichtiger. Weil man jedesmal etwas dazulernt.
In all den Jahren wurde versucht, Klischees und Glamour zu vermeiden und statt dessen ein für Fachleute und Publikum attraktives Programm zu gestalten. Ausgewählt werden vorrangig Streifen mit gesellschaftspolitischer Botschaft, dieses Jahr war zudem ein Tag den Umweltproblemen gewidmet. Manche Filme sind dank schöner Bilder auch ein ästhetischer Genuss, wie es bei dem von Titus Faschina in einer Hirtenfamilie der Mărginime gedrehten und von Thomas Ciulei produzierten Schwarz-Weiß-Film „Dem Himmel ganz nahe“ der Fall war.
Während der Festivalzeit hatte ich keinen Urlaub und schaffte es zu maximal fünf bis sechs Streifen pro Tag. Berichten werde ich nicht von den preisgekrönten Filmen sondern von einigen aus der Vielzahl der in Rumänien gedrehten.
Geschichte und Geschichten
Die neue politische Führung des Landes besteht aus lauter Intellektuellen, erklärte (der mittlerweile verstorbene) Polit-Guru Silviu Brucan am Anfang des Streifens „After the Revolution“ (Nach der Revolution). Sein Regisseur Laurenţiu Calciu erzählte nach der Erstaufführung in Rumänien, wie es zu dieser großartigen Darstellung der postrevolutionären Hysterie in Bukarest (in der Zeitspanne bis zu den Wahlen vom 20. Mai) kam: Als Reiseleiter hatte er Geld vedient und für eine VHS-Kamera gespart. Diese wurde ihm am Postamt Anfang Januar 1990 ausgehändigt. Als Dolmetscher für den britischen Journalisten (und Produzenten des Films) Ruppert Murray begleitete er diesen nach Dienstschluss (er war damals Mathelehrer) zu den Pressekonferenzen der neuen Politiker.
Am Wochenende zeichnete er Meetings, Wahlveranstaltungen oder ad-hoc-Bürgerversammlungen am Universitätsplatz auf. So entstand ein großartiges Spiegelbild der rumänischen Gesellschaft nach der unverhofft erworbenen Rede- und Manifestationsfreiheit. Von sprachgewandt argumentierenden Intellektuellen fehlt jedoch jede Spur. Der Film mache verständlich, wieso Rumänien sich gesellschaftspolitisch erst im heutigen Stadium befindet, meinte der bekannte Anthropologe Vintilă Mihăilescu, der die Debatte nach der Filmvorführung moderierte.
Zu den Streifen aus und über das Rumänien der Umbruchszeit gehörte auch „Metrobranding – Eine Liebesgeschichte zwischen Menschen und Objekten“. Ana Vlad, die den Streifen zusammen mit Adi Voicu gedreht hatte, bezeichnete ihn als „Geschichte von Gegenständen aus der Abstellkammer“. Da sind heute Ileana-Nähmaschinen, Pegas-Fahrräder oder Tennisschuhe bestenfalls noch zu finden. Es sind die früher in Cugir, Tohan und Drăgăşani produzierten Markenartikel, einst Stolz der landesweiten Nutzer, vor allem aber der heute zumeist arbeitslosen Ortsbewohner. In ihrer Erinnerung leben diese Objekte fort. Und in so mancher Abstellkammer.
Großartig und beharrlich hat Tracy Worchester das Schweinsgeschäft mit Schweinen recherchiert, das auch Rumänien einholte, durch den Großproduzenten Smithfield, der im Banat die ehemalige Comtim aufgekauft hat. Ruiniert werden nicht bloß die Kleinproduzenten, sondern auch die Umwelt und die Gesundheit jener, die in der Umgebung dieser Farmen wohnen oder das in zahlreiche Produkte eingeschleuste Fleisch essen. Der Streifen „Pig Business“ kann von der Webseite www.astrafilm.ro kostenlos runtergeladen werden.
Die Kinder in Rumänien
In Rumänien liegen die Storys auf der Straße, man braucht sie nur aufzuklauben und gute Beziehungen zu den Protagonisten zu unterhalten, meint Dumitru Budrala. Viele dieser Geschichten überschreiten das normale Vorstellungsvermögen. „Viaţa bate filmul“, heißt es so treffend auf Rumänisch. Einige davon haben Filmemacher tatsächlich aufgegriffen. Köstlich jene um den Rom Lali und den Ungar Lóri, die Regisseur Robert Lakatos in der Kneipe getroffen und unter dem Titel „Bahrtalo!“ (Viel Glück!) aufgezeichnet hat. Es ist die Story eines gewitzten Ungarn, der seinen treuen Freund, einen Rom, in seine mehr oder weniger zwielichten Geschäfte einbezieht.
Die Leidtragenden der Umbruchszeit in Rumänien sind die Kinder. Es war erfreulich festzustellen, dass mehrere Streifen mit viel Takt, aber sehr bestimmt darauf aufmerksam machten. „Singur acasă – o tragedie românească“ (Allein zuhause – eine rumänische Tragödie) lautete der Titel des Streifens von Ionuţ Cârpătorea, der anhand von Interviews mit Familienmitgliedern die Geschichten von drei Kindern nachzeichnet, die Selbstmord begingen, nachdem ihre Eltern zur Arbeit ins Ausland gefahren und sie allein zuhause gelassen hatten. Seit 2003 arbeiten schätzungsweise drei Millionen rumänische Staatsbürger im Ausland und ließen rund 350.000 Kinder zurück, von denen laut Journalisten 20 Selbstmord begingen, die Dunkelziffer liegt vermutlich höher.
Über Skype fand die Q&A-Session mit dem in Hermannstadt geborenen und in London lebenden Regisseur Liviu Tipuriţă statt, nachdem sein in Großbritannien produzierter Streifen „The Child Sex Trade“ gezeigt worden war.
Der Film thematisiert Sexhandel mit rumänischen Kindern. Vor Ausstrahlung des Streifens auf Channel 4 war das Material der britischen Polizei zur Verfügung gestellt worden, die einen der Kinderhändler – ein Brite, der als Helfer in ein Kinderheim gekommen war und danach in Bukarest eine Jungen-Sextourismus-Agentur unterhielt – verhaftete. Holte dieser Pädophile seine Opfer aus der Reihe der Straßenkinder, so war es in Mailand ein Vater selbst, der seinen minderjährigen Sohn für eine Sexpartie verkaufte!
Ähnliche Szenen waren in Paris (selbstverständlich mit versteckter Kamera) gedreht, in den Film aber nicht aufgenommen worden. Dass es Kindersexhandel gibt, verneinten die Vertreter der rumänischen Polizei. Wie schwer es ist, auf diese oder andere Art geschädigte Kinder von der Straße zu holen und in ein „normales“ Leben einzugliedern, erzählte Tipuriţă am Beispiel eines seiner Protagonisten.
Manche Diskussion war gehaltvoller und engagierter als jene, die man bei den endlosen Sitzungen und Symposien zu hören kriegt, bei denen Maßnahmen getroffen werden. Maßnahmen, die ohnehin oftmals am Papier bleiben …