Geschichten erzählen Geschichte ist das Leitmotiv einer neuen, umfangreichen Erzählsammlung von Anton-Joseph Ilk, dem österreichischen Volkskundler, der sich über vierzig Jahre der Erforschung der Lebenswelt und Kultur des Wassertales in den nordrumänischen Waldkarpaten widmete und nun ein abschließendes Ergebnis vorlegt: 200 ausgewählte Erzählungen verschiedener epischer Gattungen im Idiom der Oberwischauer Zipser und auch in Hochdeutsch.
Die lebenslange Forschungstätigkeit von Anton-Joseph Ilk fand ihren Niederschlag in mehreren Büchern, wissenschaftlichen Beiträgen, Anthologien, Sammelbänden, Nachschlagewerken und Zeitschriften in Rumänien, Österreich und Deutschland. Die vorliegende Reihe „Veröffentlichungen zu den Zipsern im Wassertal“ geht aus von dem Bestreben der Abteilung Sprachforschung im Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich, die Sprache sowohl im eigenen Bundesland als auch in den von hier kolonisierten Siedlungen im historischen Komitat Marmarosch-Königsfeld und Deutsch-Mokra in der heutigen Karpatenukraine und Oberwischau im heutigen Nordrumänien zu dokumentieren.
Das Stifter-Institut brachte nach einer internationalen wissenschaftlichen Tagung im Jahre 2006 in Linz den Sammelband „KARPATENbeeren“ (Bairisch-österreichische Siedlung, Kultur und Sprache in den ukrainisch-rumänischen Waldkarpaten, 479 S.) heraus. Dieses Buch diente als Anregung für die oben genannte Publikationsreihe. Als erster Band erschien 2009 im Verlag Haus der Heimat, Nürnberg, die von Anton-Joseph Ilk zusammen mit Johann Traxler erarbeitete „Geschichte des deutschen Schulwesens in Oberwischau“ (400 S.). Es folgte als Band zwei Ilks Dissertation unter dem Titel: „Die mythische Erzählwelt des Wassertales“ (Linz 2010, 395 S.).
Ebenfalls in Nürnberg erschien 2014 der von der Germanistin Gertraude Schmitzberger erarbeitete (von Kurt Druckenthaner und Anton-Joseph Ilk ergänzte und redigierte) dritte Band: „Die Entstehung des Waldwesens im Wassertal“ (234 S.). 2015 folgte im Verlag Haus der Heimat Nürnberg der von Ilk und Traxler erarbeitete Band vier: „Liedgut und Bräuche aus dem Wassertal“ (495 S.). Ende 2017 erschien dann als fünfter Band „Die Unsterblichkeit der Wildfrauen“ (200 mündlich überlieferte Märchen, Sagen, Schwänke und Alltagserzählungen altösterreichischer Holzfäller aus den nordrumänischen Waldkarpaten). Diese Publikation (678 Seiten, 90 Abbildungen, historische Karten-Skizzen und eine CD) ist zugleich Band 21 der „Schriften zur Literatur und Sprache in Oberösterreich“.
Schon früher hat Anton-Joseph Ilk die existentielle Notwendigkeit des Erzählens im abgelegenen, nur schwer erreichbaren Wassertal in einem vortechnischen Zeitalter hervorgehoben, da viele Erzählungen so konzipiert waren, dass sie Wissen sowie kulturelle und ethische Werte der Gemeinschaft vermittelten. Bereits das Titelbild des Buches zeigt den Autor mit Mikrofon bei einer Erzählerin, umgeben von aufmerksam lauschenden Kindern. Ähnliches gilt für die Waldarbeiter in den Hütten der Holzschläge, aber auch für die Frauen bei der Nachbarschaftshilfe. Die mündliche Weitergabe des überlieferten Erzählgutes hat seine Bedeutung in dieser Gemeinschaft über zwei Jahrhunderte hindurch beibehalten.
Die vorliegende Sammlung hat der Verfasser sowohl populärwissenschaftlich – als Teil der Publikationsreihe für die Forschung – als auch als Lesebuch bilingual gestaltet: in der Mundart der „Wischaudeutschen“ und in Hochdeutsch. Dieses Vorhaben ist geglückt, sodass die Publikation ihren Zweck nicht nur als wissenschaftliche Dokumentation, sondern auch als Volkslesebuch für die Erlebnisgeneration erfüllen wird.
Diesem doppelten Ziel ist auch der ungewöhnliche Buchtitel „Die Unsterblichkeit der Wildfrauen“ zu verdanken. „Wåldweibln“, hochdeutsch als Wildfrauen bezeichnet, sind als Salige, Elfen, Feen, Vila, Iele und Anguana seit der keltischen Zeit in der europäischen Weltanschauung verbreitet. In der Mythologie werden diese „niederen Naturgottheiten“ als schöne, schlank gewachsene Frauen mit lang wallenden, blonden Haaren beschrieben, die in Höhlen wohnen und in weißen Gewändern wandeln. Sie sollen alterslos und unsterblich sein und lassen geheimnisvolles Wissen ahnen, womit Menschen in Notlagen geholfen werden kann. Mitunter wurden Wildfrauen von jungen Männern geehelicht, heißt es. Brach jedoch der Mann das bei der Heirat vereinbarte Tabu, seine Frau nie über die Anderswelt zu befragen, entschwand sie kompromisslos für immer. Unsterblich bleiben die Wildfrauen jedenfalls in der wunderbaren Erzählwelt des Wassertales.
Die Märchen, Sagen, Schwänke und Alltagserzählungen des vorliegenden Bandes sind thematisch gegliedert. Auf das Kapitel „Erzählungen aus dem Zipser Alltag“ soll hier besonders eingegangen werden, da es einen authentischen Einblick in die Vielvölkergemeinschaft des Wassertales gewährt, wo mit Ukrainern, Rumänen, Ungarn und Deutschen bzw. Altösterreichern, vier große europäische Kultur- und Sprachgemeinschaften – das Slawische, Romanische, Ungarische und Germanische – aufeinandertreffen und sich gegenseitig bereichern. Dazu kommen Juden, Armenier u. a. Ethnien, die hier einvernehmlich mit allen lebten. Den Beweis dazu liefert das Unterkapitel „Ethnisches Zusammenleben“.
Aus dem Text „Purim“ geht hervor, dass nicht nur die Zipser, sondern auch die Juden Fasching feierten. Dieses Fest hieß Purim. Dazu luden die Juden die Zipser zu sich ein, bewirteten sie und schenkten ihnen „Kräpl“ genannten Kuchen. Aus dieser Zeit stammt der Spruch, den der Autor 1987 von seiner Mutter Elisabeth Ilk aufzeichnete: „Heint is Purim, moring is aus. / Kibt’s mir a Kräpl und stoßt’s mich hinaus.“
Am Vorabend des Festes Mariä Himmelfahrt (15. August) pilgerte die rumänische Bevölkerung des Wischau- und Isatales zur Marien-Wallfahrtskirche auf den Mosesberg (Dealul Moiseiului) und sang unterwegs Marienlieder. Den Festzügen schlossen sich auch viele Zipser an. Herr Brühl, der jüdische Apotheker von Oberwischau, betrachtete die Prozessionen und lauschte den Liedern. Als diese verhallten, wandte er sich an seine Frau und sagte: „Etjå (Etel), weste härn schrein die Goin (Nichtjuden) Máriå, Máriå, es du der Wenter.“ Das soll heißen, dass ab Mitte August in dieser Bergregion schon die kühle Jahreszeit beginnt.
Von besonderer Bedeutung für das Wassertal ist auch die abschließende Geschichte „Das Wächterhaus von Schuliguli. Ein Weihnachtsbild“, die 1885 vom Wiener Kulturhistoriker Rudolf Bergner verfasst wurde. Der plötzliche Tod der vier Wächterkinder im Gebirgsweiler Schuliguli durch die Diphtherie-Epidemie, die 1879–1882 170 Kinder dahinraffte, das Elend der Wächter-Familie in der Wildnis und die qualvolle Schlittenfahrt durch den hohen Schnee zur Beerdigung ins Tal sind das Gegenteil unserer üblichen Vorstellung von einem strahlenden Weihnachtsfest. Der Autor stellt zu Recht einen Bezug der lyrisch eingebetteten und dramatisch ausgestalteten epischen Handlung zu Goethes „Erlkönig“ her.
Als Rudolf Bergner das Wassertal 1884 besuchte, gab es in Oberwischau 1936 römisch-katholische Gläubige, mehrheitlich „Deutsche“, die als „Zipser“ bezeichnet wurden, 1752 griechisch-katholische Rumänen und 1292 Juden, die eine große Synagoge hatten. Die etwa 6000 Oberwischauer Zipser der 1960er Jahre sind in 50 Jahren auf etwa 300 geschrumpft, doch die Aussiedler halten auch in ihrem neuen Umfeld an ihrer Sprache und an ihren Traditionen fest. Diese auch der jungen Generation zu überliefern, ist Aufgabe der „Geschichten, die Geschichte erzählen“.