Zu den Klängen des Schubertschen Streichquartetts „Der Tod und das Mädchen“ ruht der Blick der Betrachter des neuesten Films von László Nemes mit dem Titel „Nap-szállta” (Sunset/Sonnenuntergang) ganz zu Beginn auf einer kolorierten Stadtansicht von Budapest im Stile einer historischen Postkarte und dann, nach dem ersten Schnitt, auf dem Gesicht der Protagonistin Írisz, verkörpert von Juli Jakab, die sich im traditionsreichen Modehaus Leiter, der ersten Adresse für Damenhüte in Budapest, die neuesten Hutkreationen vorführen lässt. Man schreibt das Jahr 1913, das Jahr vor der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand, die Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, die Endzeit der k. u. k. Doppelmonarchie.
Klingen damit bereits in den ersten Szenen des Films die Leitmotive von Tod und Schönheit an, so tritt bald genug das ebenso gewichtige Motiv der Gewalt und des Verbrechens hinzu. Írisz’ Leiters Eltern, die früheren Inhaber des Hauses für Hutmoden, waren zwei Jahrzehnte zuvor beim Brand des Familienbetriebs umgekommen, Geschäft und Atelier waren danach völlig zerstört, und der geheimnisumwitterte Sohn der Familie, Kálmán, soll dabei sogar die Hand im Spiele gehabt haben.
Gegenspieler der weiblichen Protagonistin Írisz Leiter ist in László Nemes’ Spielfilm der derzeitige Inhaber des traditionsreichen Modehauses, der von Vlad Ivanov grandios verkörperte Oszkár Brill, der das junge Fräulein Leiter zunächst einmal nach Triest zurückschicken möchte, wo man sie als Zweijährige nach dem gewaltsamen Tod der Eltern hin brachte und wo sie aufwuchs, der dann aber, nachdem Írisz sich nicht abschütteln lässt, fortan seine Hand schützend über sie hält.
László Nemes arbeitet in seinem jüngsten Streifen, der beim Filmfestival in Venedig im vergangenen Jahr den FIPRESCI-Preis gewann, mit denselben künstlerischen Mitteln, die er auch schon in seinem vielfach, unter anderem mit dem Auslands-Oscar, preisgekrönten Film „Saul fia“ (Son of Saul/Sauls Sohn) mit Erfolg angewandt hatte. Am augenfälligsten ist hierbei die Kameratechnik, zumal László Nemes in „Sunset“ mit demselben Kameramann gearbeitet hat wie in „Son of Saul“: Mátyás Erdély. Erdélys Kamera heftet sich entweder, wie ein unbarmherziger Verfolger, an den Nacken der fokussierten Filmfigur, steht zuweilen auch unbewegt vor deren Gesicht in Großaufnahme oder flieht im Krebsgang vor der auf sie zustürzenden Filmgestalt. Was sich nicht in unmittelbarer Nähe der in die Ferne gerichteten Kamera befindet, bleibt oft verschwommen, als habe der Kameramann vergessen, sein Objektiv korrekt zu justieren und die richtige Schärfe einzustellen. Daraus ergibt sich einerseits ein Gefühl der Bedrohung, des Ausgeliefertseins an das in der Ferne lauernde Unbekannte, andererseits auch der Eindruck der Atemlosigkeit und des Gehetztwerdens, der durchaus in einem übertragenen Sinne zeitgeschichtlich, gesellschaftsbezogen und kulturhistorisch gedeutet werden kann.
Wie „Son auf Saul“, so besticht auch „Sunset“ durch den grandiosen Soundtrack (Sound Design: László Melis), in dem nicht nur die Schönheit klassischer Musik und die Laute der Natur, sondern auch das babylonische Sprachengewirr des habsburgischen Vielvölkerstaates (man hört mitunter auch rumänische Sprachfetzen!), die Geräusche des großstädtischen Alltags, die Schreie der Opfer von Gewalt, die anschwellende Lärmkulisse eines alles umfassenden Untergangs akustisch zur Erscheinung kommt.
Nicht nur akustisch, sondern auch optisch bietet der Film „Sunset“ schauspielerischen Genuss vom Feinsten. Der Rumäne Vlad Ivanov besticht durch die Darstellung einer Charakterfassade, die an zahlreichen Stellen brüchig wird und den Blick freigibt auf ein Meer von Angst, Schuld, und Hilflosigkeit. Juli Jakabs Gesicht gewinnt immer wieder neue Facetten, entbirgt immer wieder Überraschendes, insbesondere in den Sequenzen, in denen sie unerwartet in Männerrollen schlüpft. Der ungarischstämmige Rumäne Levente Molnár, in Neustadt/Baia Mare geboren und Mitglied des Ungarischen Staatstheaters in Klausenburg/Cluj-Napoca, der in „Son of Saul“ bereits eine tragende Nebenrolle gespielt hatte, begeistert durch seine Verkörperung des wahnsinnigen Gáspár, Julia Jakobowskas opiumsüchtige Gräfin Rédey lässt den Sadismus des Wiener Adligen Otto von König, dargestellt vom deutschen Schauspieler Christian Harting, in schillerndem Licht erscheinen, und viele andere Schauspielerinnen und Schauspieler wie Evelin Dobos als Zelma oder Sándor Zsótér als Doktor Herz machen den Film zu einem einzigen künstlerischen Augenschmaus.
Das Genre wie die Handlung des Films bleiben indes von Anbeginn an im Unklaren und Rätselhaften. Ist es eine Familienstory, in deren Verlauf die Nachfahrin des Modehauses Leiter ihre Familiengeschichte Schritt für Schritt in Erfahrung bringt und somit ihre persönliche Identität sukzessive erst eigentlich gewinnt und in Besitz nimmt? Ist es ein Thriller, der nicht nur das Verbrechen am Ehepaar Leitner oder an der Gräfin Rédey, sondern auch an den Angestellten des Modehauses Leiter, etwa an der Hutmacherin Fanny, aufzuklären sich bemüht? Ist es ein Gesellschaftspanorama der untergehenden Österreich-Ungarischen Monarchie, das die divergierenden Kräfte des auseinanderbrechenden Vielvölkerstaates, die sozialen und nationalen Ungleichheiten, den Untergang einer überlebten Adelswelt gekonnt in Szene setzt? Ist es ein Film über den Zusammenhang von Dekadenz und Vernichtung, von Ästhetizismus und Tod, gemäß dem berühmten Vers August von Platens „Wer die Schönheit angeschaut mit Augen, ist dem Tode schon anheimgegeben“? Oder ist es ein Film, der den Untergang des Abendlandes beschwört, wie er sich in den Materialschlachten des modernen Stellungskrieges vollendet? Dafür spräche der kurze Epilog des Films, der im Übrigen an den Schluss von Thomas Manns Roman „Der Zauberberg“ gemahnt und der Írisz Leiter im Schützengraben in soldatischer Uniform zeigt, mit entschlossen-besessenem Blick ihrem baldigen Ende entgegensehend. Keine der Antworten auf diese und viele andere mögliche Fragen dürfte jemals Klarheit schaffen, weder im Hinblick auf die Gattung des Films noch im Hinblick auf die Schlüssigkeit seines Plots.
Vielmehr öffnet der Film „Sunset“ von László Nemes durch den Rausch seiner Bilder und durch die letztendliche Kryptizität seiner Geschehnisse den Raum für allerlei Spekulationen, nicht zuletzt für folgende: Ist der drohend im Hintergrund bleibende Sohn der Familie Leiter, Kálmán, nicht eine Metapher für die destruktiven Energien, die sich um 1914 in Europa, hier gebündelt in der ungarischen Metropole, angesammelt haben? Ist Kálmán Leiter nicht, ŕ la Dr. Jekyll und Mr. Hyde, das zerstörerische Alter Ego seiner Schwester Írisz, die auf den Verlust von Identität und Besitz mit purer Gewalt reagiert? Auch das am wenigsten Glaubhafte oder kaum je Denkbare wird durch dieses filmische Experiment von László Nemes ins Wahrscheinliche oder gar Plausible gerückt.