Harap-Alb goes Freddie (Mercury)

Oskaras Koršunovas feiert rumänisches Debüt mit „Exod“

Foto: Adrian Pîclișan / TNTm

Ähnlich wie der biblische Exodus zeichnet sich auch die jüngste, monumentale Produktion des Temeswarer Mihai-Eminescu-Nationaltheaters ab: Das Schicksal der Menschen auf dem Weg in ein vielversprochenes oder -versprechendes Land ist mit vielen Entbehrungen und Identitätsverlust gepflastert. Dem Temeswarer Publikum wurde ein knapp fünfstündiger Premierenabend am 22. Juni im großen Saal des Temeswarer Theaterhauses von dem litauischen Starregisseur Oskaras Koršunovas (und seinem litauischem Produktionsteam) bereitet, der damit seine erste Produktion in Rumänien zeichnet (zur Erinnerung: Das Temeswarer Publikum hatte beim Eurothalia-Theaterfestival 2015 die Gelegenheit, Tschechows „Die Möwe“ von Oskaras Koršunovas am OKT/ Vilnius City Theatre zu erleben).

Der Einlass erfolgt kurz vor Vorstellungsbeginn, weil nämlich das Stück schon läuft, während das Publikum im Saal seinen Platz sucht. In der Loge, nahe der Bühne, ist der erste Eindruck olfaktorisch: stickig und verschwitzt. Auf der Bühne herrscht viel Bewegung und das mit einer großen Besetzung (31 Spieler), hauptsächlich durch Schauspielstudenten, aber auch beliebten und bekannten Gesichtern des Nationaltheaters, allen voran Ion Rizea in einem Rollstuhl, der mit seiner Bühnenpräsenz den roten Faden der Geschichte spinnt, oder Matei Chioariu, der das Böse in der Person des Engländers Harry darstellt. Eine Glanzrolle legt jedoch der junge Hauptdarsteller Marin Lupanciuc (a.G.) hin und damit auch das performative Kernstück der Handlung und der Inszenierung. Als Ben lässt er Liebe, Leidenschaft, Verrat, Kameradschaft, Enttäuschung, Hoffnung und Gewalt über sich ergehen. Theatralische Genussmomente versprechen auch die jungen, teils debütierenden Schauspielerinnen und Schauspieler Cristina Rotaru Chiperi, Ionuț Iova, Cătălin Ursu, Alexandru Romescu, die Ben durch die Handlung begleiten, oft jedoch eher Misserfolge als eine Auf-wärtsentwicklung mitmachen.

Es handelt sich bei „Exod“ um ein reichhaltiges, beeindruckendes, vielseitiges und vielschichtiges Stück, mit einem großen Aufwand für Spieler und Technik, dem die Hand des Regisseurs klar anzuerkennen ist, dem es allerdings an Konsequenz in der Spannung und auch beim Aufbau mancher Szenen fehlt. Bei der Adaptation des Textes von Marius Ivaškevicius auf eine Gestalt aus Rumänien ist manches an Konsistenz und Tiefsinn verloren gegangen, das mit oberflächlichem Humor und Stereotypischem ersetzt wird. Dafür erlebt das Publikum doch eine Vielzahl komplexer Charaktere, die sowohl durch das Talent der jungen Schauspieler, als auch des Regisseurs entstehen. Die drei-vier über den Abend gestreuten Improvisations-Szenen binden die Zuschauer noch stärker in das Geschehen ein und strotzen vor Dynamik und Menschlichkeit. Das Dramatische, das sich über den ganzen Abend zieht, wird durch oft gelungene Burlesken und komödienhafte Einrufe/Kommentare, die ebenfalls sehr menschlich herüberkommen, aufgelockert.

Die Live-Musik gespielt von The Bandits (Tibor Aranyi, Sorin Stroie, Francis Mozes, Alexandru Munteanu, Răzvan Munteanu) gehört zu den Highlights der Inszenierung, genauso wie die Musical-Einlagen und die Choreografie (Vesta Grabštaite). Das massive aber auch wandelbare Bühnenbild (Gintaras Makarevicius) scheint jedoch an manchen Stellen eher zu stören und die Bühne unnötig zu füllen. Ähnlich verhält es sich mit manchen Szenen, die unnötig langgezogen erscheinen, oder gar überflüssig als Satellit-Nebenhandlungen (bei einer 4 Stunden 40 Minuten langen Aufführung hätte man auf diese wirklich verzichten können).

„Exod“ schafft es auf jeden Fall, Leidenschaft und Freude am Theater zu wecken, zum Nachdenken und Debattieren anzuregen. Es nervt, amüsiert und verstört zugleich. Es ist ein Theaterstück, wie es sich mancher für das Kulturhauptstadtjahr Temeswar 2023 von der darstellenden Kunst in der Stadt erhofft hat und das auf jeden Fall zum Erbe dieses Jahres gehören wird.