Herta Müller, die Literaturnobelpreisträgerin des Jahres 2009, die bei der Verleihung dieses Preises großzügig zugeneigte Worte für ihre Freunde, die ehemaligen Mitglieder der „Aktionsgruppe Banat“, fand, beging am 17. August 2023 ihren siebzigsten Geburtstag. Sie wurde in Nitzkydorf geboren, besuchte 1968 bis 1972 das Lenau-Lyzeum in Temeswar/Timișoara und studierte anschließend Germanistik und Rumänistik an der Temeswarer Universität, wobei sie in dieser Zeit oder wahrscheinlich auch schon früher Literatur zu schreiben begann und diese Schreibtätigkeit seither intensiv, in höchst eigenwilliger Art und sehr erfolgreich fortsetzte.
Bereits ihr erster Prosaband „Niederungen“, der 1982 gekürzt in Rumänien und 1984 sodann vollständig im Berliner Rotbuch Verlag erschien, fand gehörige literarische Anerkennung und wurde u.a. mit dem Debütpreis des Rumänischen Schriftstellerverbandes (1982) und dem Aspekte-Literaturpreis (1984) ausgezeichnet. Mit diesem Band und der lebhaften Resonanz, die er fand, intensivierten sich indes zugleich die Bespitzelungen und sonstigen Maßnahmen der Securitate und begann die gegen sie gerichtete, durch den rumänischen Geheimdienst initiierte und orchestrierte Verleumdungs- und Hetzkampagne in bestimmten Kreisen der Banater Landsleute in Rumänien und in Deutschland, die auch nach ihrer Aussiedlung 1987 boshaft und hinterhältig fortgesetzt wurde.
Nach alldem, das über sie bereits weltweit veröffentlicht wurde, kann man dem eigentlich kaum noch Neues zu ihrem Werk, ihrer Person und ihren vielzähligen Preisen und Ehrungen hinzufügen. Daher möchte ich meine Ausführungen zu ihrem runden Geburtstag auch bewusst recht subjektiv und persönlich halten.
Das für mich als Sozialwissenschaftler und Schriftsteller mit einem ähnlichen Erfahrungshintergrund wie Herta Müller Interessanteste und Wichtigste, das sie geschrieben, in ihrer Literatur erschlossen und überaus eindrucksvoll verarbeitet hat, sind die Wesenszüge wie auch die Schwächen einer Diktatur, wie diese nicht zuletzt im nationalkommunistischen Rumänien unter dem Ceau{escu-Regime zu erleben waren. In einem bereits 2003 verfassten Beitrag versuchte ich zu zeigen, wie sich die in den gängigen Totalitarismustheorien festgehaltenen Merkmale totalitärer Diktaturen überaus trefflich und zugleich schrecklich bedrückend in den literarischen Arbeiten Herta Müllers veranschaulicht finden. Ihre Romane und Reflexionen und insbesondere der Roman „Herztier“, auf den sich meine Analysen hauptsächlich bezogen, lehren uns zu sehen und zu verstehen, dass eine Diktatur nicht nur ein wohldurchdachtes und durchorganisiertes Herrschaftssystem, sondern die Summe vieler einzelner kleiner Dinge ist, die in nahezu sämtliche Winkel des alltäglichen Lebens und Denkens der Menschen reichen. Die ständige Präsenz und die willkürliche Androhung von Gewalt bewirken psychische Verletzungen und führen zu Dispositionen und Zuständen, wie sie in Diktaturen typisch sind, wobei die diktatorische Herrschaft natürlich auch über eigene Anreiz- und Belohnungssysteme verfügt, wie Herta Müller etwa am Beispiel sozialer Aufsteiger oder abgestufter Privilegien der zum Herrschaftskreis Gehörenden zeigte. Schließlich ist die Diktatur auch ein Kampf gegen die Denkenden, gegen die Intellektuellen, die Intellektuelle sind oder nur bleiben können, wenn sie nicht den Bestrebungen der Diktatur gefügig und damit eine Karikatur ihrer selbst werden. Im Sinne der literarischen Bilder und Ausführungen Herta Müllers könnte man synoptisch befinden: Die Diktatur erreicht dann ihren gesellschaftlichen Zielzustand – und darauf arbeitet sie wohl auch unentwegt und mit allen Mitteln hin –, wenn in den Köpfen aller ständig „der gleiche Film abläuft“. Diese Gleichschaltung der Menschen im Sinne ihrer Ideologie ist der Zweck jeder Diktatur.
Von ähnlicher Bedeutung und wahrscheinlich noch größerer Reichweite wie die literarischen Arbeiten zu dem Themenkreis der totalitären Diktatur ist sicherlich auch Herta Müllers Roman „Atemschaukel“, der die Verleihung des Literaturnobelpreises an sie bekanntlich mitbegründete. In diesem Werk findet sich in eindrucksvoller literarischer Verarbeitung und zugleich mit außergewöhnlicher sprachlicher Sensibilität das kollektive Trauma der bürokratisch geplanten und durchorganisierten Massendeportation der Deutschen aus Rumänien und aus anderen Ländern des sowjetischen Einflussgebietes am Ende des Zweiten Weltkrieges verdichtet; also die bedrückenden Erfahrungen der Zwangsarbeit unter einem inhumanen Lagerregime, mit strengen, gewaltgestützten Regelungen, Zwängen, Kontrollen, Demütigungen, Schikanen und Repressionen, unter oft rudimentären Unterbringungs-, Hygiene- und Lebensbedingungen, bei im Winter eisiger Kälte, häufiger Krankheit, nahezu ständigem Hunger, körperlicher Schwäche, Gebrechlichkeit und vielfach eingetretenem Tod. Dies sollte auch und gerade in unserer Zeit eine sehr eindringliche Erinnerung und Mahnung angesichts des brutalen Überfalls der Ukraine durch Russland und den dabei erfolgten und bekannt geworden Gräueltaten darstellen, wobei der Donbass vielfach einen gemeinsamen Bezugsraum der Deportation der Deutschen aus Rumänien und der heutigen blutigen Kampfhandlungen bildet.
Nun noch einige Anmerkungen zu meinem persönlichen Verhältnis zu Herta Müller. An meinen „Prozess“ Ende des Jahres 1970, nach einem „demonstrativen Fluchtversuch“, erinnere ich mich nur ungern. Lediglich eine Episode fiel mir später öfter ein, nämlich die, dass ich aus dem Gefängnis in einem Kastenwagen zum Gericht gebracht wurde und unter Bewachung durch schwer bewaffnete Sicherheitskräfte und in Handschellen mit einigen anderen Häftlingen, die an diesem Tag ihre Gerichtsverhandlungen hatten, aus dem Fahrzeug ausstieg und dabei flüchtig eine Schülergruppe vor dem Gerichtsgebäude wahrnahm. Unter diesen befanden sich – wie mir erst später bewusst wurde – auch Gerhard Ortinau, späterhin Gründungsmitglied der Aktionsgruppe Banat, und Herta Müller. Wie ich nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis erfuhr, wollten sie an der Gerichtsverhandlung teilnehmen, wurden aber nicht zugelassen. Beide haben mir dies übrigens im vorletzten Jahr, also 2021, nochmals auf Nachfrage persönlich bestätigt. Diese damals nicht ganz ungefährliche Anteilnahme und Solidaritätsbekundung durch beide und einige andere Schüler, die mir größtenteils unbekannt blieben, begründeten von meiner Seite eine unerschütterliche Freundschaft zu beiden – für immer.
An etwas recht Alltägliches erinnere ich mich ebenfalls noch gerne. Es war kurze Zeit nach der Ausreise Herta Müllers und Richard Wagners im Jahr 1987, als ich sie zusammen mit Gerhardt Csejka, renommierter rumäniendeutscher Literaturkritiker, und meiner Frau in Berlin besuchte. Richard Wagner, ihr damaliger Ehemann, war zum Zeitpunkt unseres Besuches allerdings verreist, Herta empfing uns indes sehr liebevoll und vertraut, so als ob keine Zeit zwischen unserem Abschied im Banat Mitte der 1970er Jahre und dem damaligen Wiedersehen in ihrer Wohnung in der Kufsteiner Straße in Berlin gelegen hätte. Sie hatte zudem ein vorzügliches Gulasch für uns gekocht. Dazu gab es auch einen Wein, wenn ich mich recht erinnere, und ein langes, lebhaftes und intensives Gespräch. Es erschien mir damals wie ein Erlebnis zwischen oder auch jenseits von Welten und Zeiten, eine Begegnung zwischen „noch nicht“ und „nicht mehr“, wenn man es in vertrauten Worten aus der Literatur ausdrücken möchte.
Nochmals ein Zeitsprung ins Jahr 2008. Nach einer Lesung Herta Müllers in der Stadtbibliothek in Görlitz saßen wir mit ihr und mit Ernest Wichner, einem anderen ehemaligen Mitglied der Aktionsgruppe Banat, und seiner Frau wie auch mit Andreas Schönfelder von der Umweltbibliothek Großhennersdorf und dessen aus Rumänien stammenden Frau bis in die frühen Morgenstunden in unserer Görlitzer Wohnung zusammen. Das Gespräch bezog sich vielfach auf die Machenschaften der Securitate und die Tätigkeit ihrer Spitzel, Helfer und Helfershelfer, deren erschreckende Tragweite erst nach der Öffnung der Archive und der Zugänglichkeit zumindest eines Teils der Securitateakten sichtbar wurde. Wir sprachen dabei natürlich auch über die Schamlosigkeit und Dreistigkeit einiger dieser Zuträger der Securitate aus dem Kreis deutscher Schriftsteller und Intellektueller aus Rumänien, die bereits in den 1980er Jahren auch in Deutschland, als Auslandsagenten des rumänischen Geheimdienstes, ihre heimtückischen Desinformationsumtriebe und Hetzkampanien fortsetzten und die – nach ihrer nachweislichen Enttarnung – statt sich bei ihren Opfern zu entschuldigen, diesen mit rechtlichen Schritten drohten und später sogar Prozesse gegen sie führten, so dass manche Opfer auf Grund dieses schamlosen und zynischen Verhaltens ein zweites Mal gedemütigt und zu Opfern wurden.
Es sollte doch wirklich nicht sein, so möchte man heute denken, dass das durch die kommunistische Diktatur und die Securitate auch unter den Deutschen in Rumänien hinterhältig verbreitete Gift der Bespitzelungen, Intrigen, Verleumdungen usw. wegen der offenbar moralischen Skrupellosigkeit und unbelehrbaren Dummheit, Blindheit oder Befangenheit einiger in die Irre geleiteter oder sich sogar in die Dienste der Securitate auf ewig gestellt fühlender Landsleute so zerstörerisch, verletzend und schmerzhaft weiter wirkt. Ich weiß, Herta Müller leidet immer noch unter diesen anhaltenden, boshaften und irrationalen Verleumdungen aus dem Kreis ihrer Landsleute. Sie hat gewiss anderes verdient. Nicht nur angesichts ihres runden Geburtstags möchte ich ihr daher auch im Namen unzähliger Landsleute versichern, dass wir ihr für ihre einmalig eindringliche Literatur sehr dankbar und natürlich auch stolz auf sie sind.