Glutrot taucht der Sonnenball unter den Horizont. Während das weite Feld langsam in der Schattenwelt versinkt und die riesige Eberesche wie ein schwarzer Geist ihre Arme in den violetten Himmel dehnt, erwacht die Ruine zum Leben. Ringsum Fackelbeleuchtung. Ein Mann tritt auf den Balkon ohne Geländer. „Hören Sie nun, wie die Sonne untergeht!“, sagt Răzvan Popovici den norwegischen Akkordeonisten Stian Carstensen in der Höhe an. Töne lösen sich, erfasst vom sanften Wind, mal klagend, mal schwungvoll, ein wenig Klassik, ein wenig norwegische Folklore mit einer Prise Balkan und einem Hauch Rumänien. „Weil ich mich 1994 auf einer Hochzeit in Bukarest in das ţambal (Hackbrett) verliebt habe“, gesteht der Künstler. Das Herrenhaus Marghiloman in Hagieşti (Ialomiţa) ist eine denkbar ungewöhnliche Kulisse für ein Konzert mit Weltklasse-Musikern! Schon die Anfahrt zur isoliert gelegenen Ruine gestaltet sich als kleines Abenteuer. Trotzdem ist die Wiese voller Autos, die Stuhlreihen im Kreis weniger Baumriesen füllen sich schnell. Kinder belegen die bunten Sitzsäcke vor der nicht vorhandenen Bühne im Gras. Die Kulisse: gähnende Fensterhöhlen, in denen Vögel ein- und ausfliegen. Die einstige Pracht, noch gut zu erahnen, überlagert mit zunehmender Dunkelheit die triste Realität des verfallenden Gemäuers. Zeitgrenzen lösen sich in Tönen auf. Vor dem geistigen Auge steigen Bilder aus einer transparent gewordenen Vergangenheit empor...
Ein Konzert für den Denkmalschutz
Es ist bereits die fünfte Veranstaltungsreihe, die SoNoRo Conac – in diesem Jahr zwischen April und September – in ausgewählten denkmalgeschützten Gebäuden Rumäniens durchführt. Ziel ist, architektonisches Kulturerbe wiederzubeleben und die Menschen dafür zu sensibilisieren, ihm Respekt zu zollen, stolz darauf zu sein, es ins Herz zu schließen. Dafür kann man sich keinen besseren Partner vorstellen als das Institut für Denkmalschutz (INP), das sich um die Restaurierung des Herrenhauses in Hagieşti, heute im Besitz des Kulturministeriums, kümmern will. Ein Ausstellungszentrum schwebe ihm als Verwendungszweck vor, verrät der Leiter des INP, Ştefan Bâlici: Objekte aus Bukarester Museen, dort aus Platzmangel nicht präsentiert, sollen in temporären Ausstellungen der Öffentlichkeit vorgestellt werden.
Wie lange mag hier keine Musik mehr gespielt worden sein? Waren Bälle und Konzerte nicht an der Tagesordnung in den prächtigen walachischen Herrenhäusern? Dieses wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erbaut, im 18. Jahrhundert umgebaut, und vereint den Charakter mehrerer Epochen. Der Keller ist typisch für die erste Bauphase, im Parterre finden sich Gewölbe im Brâncoveanu-Stil. Im 19. Jahrhundert befand sich das Herrenhaus im Besitz der Familie Marghiloman, bis es in kommunistischer Zeit in eine Traktoristenschule ungewandelt wurde, erzählt Bâlici.
Die Musiker wechseln, es folgen vier klassische Stücke, gespielt von den Violinisten Răzvan Popovici, Daniel Rowland aus Amsterdam und dem Violoncellisten Justus Grimm aus Antwerpen: Ludwig van Beethoven, Jules Massenet, Zoltán Kodály, Johan Halvorsen. Dann wieder Improvisationen, Akkordeon im Dialog mit Violine, Akkordeonsolo. Stian Carstensen pfeift dazu, kristallklar wie eine Panflöte – und schließt mit einer Art grobem Knurren, das alle zum Lachen bringt. Er versteht es, mit Tönen zu scherzen, auf dem Instrument, das er seit früher Kindheit beherrscht, Talent als Erbe mehrerer Musikergenerationen.
Kammermusik der Natur zurückgeben
SoNoRo Conac, ein 2013 ins Leben gerufenes Projekt der NGO SoNoRo, geht auf die Idee des in Rumänien geborenen, in Deutschland am Chiemsee aufgewachsenen Violinisten Răzvan Popovici zurück, der seit über 10 Jahren die SoNoRo-Festivals in mehreren rumänischen Städten und die SoNoRo-Workshops organisiert (www.interferente.Sonoro.ro). SoNoRo fußt auf dem Gedanken, die Kammermusik ihrem ursprünglichen Raum, der Natur, zurückzugeben und richtet sich an ein aktiv zuhörendes, nicht allzu breites Publikum. „Hören Sie, wie die Sonne untergeht?“ fragt Popovici immer wieder, während er mit viel Humor ansagt. „Morgen spielen wir in Hermannstadt/Sibiu in der katholischen Kirche, dann in der Kirchenburg von Kleinschenk/Cincşor, am 17. Juni im Schloss Kálnoky in Micloşoara und am 18. Juni im Schloss Daniel in Tălişoara”, verrät er zum Schluss mit Verweis auf den Programmkalender, der unter www.conac. sonoro. ro eingesehen werden kann. Längst herrscht tiefe Nacht. Im Hintergrund erstrahlt die Fassade nun in rötlichem Scheinwerferlicht. Mücken enden zischend im blauen Licht einer Hochspannungsfalle. Das Konzert schließt mit zwei Zugaben: „Salut d’amour“ (Edward Elgar) und „Liebesleid“ (Fritz Kreisler). Umrahmt von tiefschwarzen Bäumen, die sich im Sommerwind wiegen, klirren Gläser, rascheln Kleider, plätschern Gespräche unter dem üppigen Sternenhimmel. Der Ort ist zum Leben erwacht.