Die Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG) ist der Dachverband von 261 Literaturgesellschaften und Literaturmuseen in Deutschland. Sie wurde 1986 gegründet und hat die Aufgabe, die literarische Vielfalt im Land der Dichter und Denker zu erhalten. Die Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft fördert die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit den Texten des österreichischen Dichters sowie mit den kulturellen Erscheinungen um die Jahrhundertwende von 1900. Am 15. April schlug die Feierstunde für die Hofmannsthal-Gesellschaft, die am 1. Februar 1968, vor 50 Jahren, in Frankfurt am Main gegründet wurde.
Das Jahr 1968 bietet einen Chronotopos, der auch die Hofmannsthal-Gesellschaft gleich bei ihrer Gründung prägte, hob der jetzige Präsident der Gesellschaft, Prof. Dr. Alexander Honold, in seiner Eröffnungsansprache hervor. Die Parameter Zeit und Raum bilden, um mit Michail Bachtin zu sprechen, einen untrennbaren und wechselseitigen Zusammenhang. Dementsprechend dimensioniert der Raum die chronologische Folge der Handlung und umgekehrt füllt die Zeit den Raum mit Sinn. Wie in der Erzählforschung ist auch diesmal ein Ort, Frankfurt am Main bzw. das Freie Deutsche Hochstift, symbolhaft für den Ablauf einer Handlung, nämlich eines Festaktes, geworden. Erinnert sei an die Bewegung, der das Jahr 1968 ihren Namen gegeben hat, an die Ereignisse der umstrittenen jüngeren deutschen Geschichte, die zu emotional aufgeladenen Diskussionen geführt haben. Für einige war das Jahr 1968 ein Aufbruch in die Moderne, die Geburtsstunde der Freiheit, für andere der Beginn eines Werteverfalls mit negativen Auswirkungen bis heutzutage. Es gab und gibt bis heute Befürworter und Gegner. 1968 war für die ganze Welt ein bewegtes Jahr: Der Prager Frühling mit dem Attentat auf Rudi Dutschke, der Pariser Mai, die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg, die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den USA kulminierten im Jahr 1968.
Anlässlich des 50-jährigen Jubiläums sprach Prof. Dr. Martin Stern, Gründer der Hugo von Hofmansthal-Gesellschaft, Editor der historisch-kritischen Hofmannsthal-Ausgabe, mit Prof. Dr. Elsbeth Dangel-Pelloquin (stellvertretende Vorsitzende der Hofmannsthal-Gesellschaft) und Dr. Konrad Heumann (Schatzmeister der Hofmannsthal-Gesellschaft) über die Anfänge der Gesellschaft, über persönliche Erlebnisse und historisch-kulturelle Ereignisse von damals. Anwesend war ein literaturinteressiertes internationales Publikum, das auch einen Einblick in Dokumente aus Georg Büchners Leben und Schaffen nebst elf weiteren Büchneriana im Arkadensaal des Hochstifts am Großen Hirschgraben bekommen konnte. Da es nur sehr wenige Originaldokumente aus dem Leben von Georg Büchner gibt, stellen vor allem drei davon einen bedeutenden Fund dar. Es handelt sich um den Ankauf eines „Commers-Lieder-Buchs“ der theologischen Studentenverbindung „Eugenia“ in Straßburg, um einen Eintrag ins Stammbuch seines Freundes Edouard Reuss sowie um einen Brief aus Darmstadt vom Juli 1836 an Georg Geilfus, den er aus der Schulzeit kannte. Erinnert sei daran, dass sich Hofmannsthal seinerzeit für Büchners „Woyzeck” eingesetzt hat, der 1913 in München uraufgeführt wurde.
Herrn Prof. Stern zuzuhören, war nicht nur ein besonderes Erlebnis für mich als Germanistin aus Rumänien und Mitglied der Hofmannsthal-Gesellschaft, sondern auch eine einmalige Gelegenheit, ein Stück Geschichte des deutschen akademischen Betriebs Ende der 60er Jahre unmittelbar kennenzulernen. Wer hätte gedacht, dass man damals Schwierigkeiten hatte, an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main Vorlesungen zum Expressionismus zu halten? Martin Stern erzählte spannend und geistreich, mit vielen witzigen Details, von seiner Laufbahn als Ordinarius im Alter von 37 Jahren, von den Anfängen der Hofmannsthal-Gesellschaft und den Überlegungen, ein Wissensnetzwerk zu schaffen im Hinblick auf die Edition der kritischen Werkausgabe, die am Freien Deutschen Hochstift vorbereitet wurde. Die erste Tagung und Mitgliederversammlung der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft fand am 28. und 29. September 1968 in Frankfurt am Main statt. Namhafte Germanistinnen und Germanisten nahmen daran teil. Die Atmosphäre war geladen, da die Mitglieder ganz unterschiedlichen Generationen und geistigen Richtungen angehörten. Es saßen Lamm und Wolf an einem Tisch, wie es Prof. Stern bildhaft formulierte: Exilanten, linke Wissenschaftler sowie Traditionalisten, denn es herrschte die Zeit der Studentenunruhen, die in Frankfurt zur Ausrufung der politischen „Karl-Marx-Universität“ geführt hatten. Von Anfang an nahm sich die Gesellschaft vor, keine rein fachgermanistische, sondern eine kulturwissenschaftlich orientierte zu sein, das Werk Hugo von Hofmannsthals in einem internationalen Kontext zu pflegen und sich an Literaturinteressierte weltweit zu adressieren. Sicherlich war Deutschland eines der wichtigsten Länder in dem neu gegründeten Verband, aber auch viele andere Länder in Europa und sogar die USA hatten bedeutende Vertreterinnen und Vertreter in der Gesellschaft. Heute, stellte Prof. Stern fest, ist der Vorstand nicht mehr so international ausgerichtet. Die Gesellschaft brachte die „Hofmannsthal-Blätter“ heraus, die einzigartige Dokumente und Nachrichten über Funde in der Hofmannsthal-Forschung veröffentlichten. Zur Familie in Rodaun hatte sie auch Beziehungen, um weitere Türen zu öffnen.
Während Prof. Stern sprach, erinnerte ich mich an meine erste Teilnahme an einer Tagung der Hofmannsthal-Gesellschaft 1991 in Neubeuern am Inn. Das war für mich der Beginn einer Mitgliedschaft und der Auftakt für eine mehrfache, konstante Beschäftigung mit dem Werk des österreichischen Autors, die einen ausschlaggebenden Teil meines beruflichen Werdegangs darstellen. Ich habe meine Abschlussarbeit und meine Dissertation über Aspekte seines Oeuvres verfasst, Vorlesungen und Seminare zur Wiener Moderne gehalten, in denen Hofmannsthal einen zentralen Platz eingenommen hat, studentische Lesungen zum Chandos-Brief veranstaltet, um ihn den jüngeren Germanistinnen und Germanisten aus Rumänien näher zu bringen. Meine akademische Laufbahn ist ohne die wissenschaftliche und kulturelle Auseinandersetzung mit Hofmannsthal nicht denkbar. Das alles wäre ohne die wissenschaftlich und menschlich bereichernden Teilnahmen an den Tagungen der Gesellschaft sowie ohne die Unterstützung durch viele ihrer Mitglieder, denen ich sehr dankbar bin, nicht möglich gewesen. Ihnen ist es auch zu verdanken, dass in der Österreich-Bibliothek Bukarest das hochkarätige Hofmannsthal-Jahrbuch mit wissenschaftlichen Aufsätzen im zeitgenössischen Umfeld Hofmannsthals und mit Beiträgen zur europäischen Moderne vorhanden ist, das den Studierenden und Lehrkräften jederzeit zur Verfügung steht.
Der Festakt in Frankfurt ist als eine wohlverdiente Würdigung und erfolgreiche Fortsetzung der vor 50 Jahren begonnenen Pflege und Herausgabe der Werke Hofmannsthals zu verstehen. Der Hofmannsthal-Gesellschaft wünschen wir auch von Rumänien aus ein herzliches „Hoch soll sie leben!”