Nachdem Puccinis „La Bohème“ am 30. Mai dieses Jahres in der Stuttgarter Staatsoper Premiere hatte, ist dieses Hauptwerk Puccinis auch in der kürzlich eröffneten Spielzeit wieder im Repertoire des Stuttgarter Großen Hauses. In den Monaten Oktober bis Dezember stehen noch mehrere Aufführungen dieser Oper auf dem Spielplan, die zusammen mit „Tosca“ und „Madame Butterfly“ die große Trias in Puccinis Opernschaffen zur Zeit der Jahrhundertwende bildet.
Mit seiner Oper „La Bohème“ beschritt Puccini den Weg des sogenannten Verismo, einer neuen Stilhaltung in der italienischen Operngeschichte, die sich einer wirklichkeitsnahen und realitätsgetreuen Opernhandlung verpflichtet wusste und sich als Gegenbewegung zur theatralischen Inszenierung romantischer, märchenhafter oder historistischer Sujets auf der Opernbühne verstand.
Mit seiner Oper „La Bohème“ hatte Puccini auch den Komponierwettlauf mit Ruggero Leoncavallo gewonnen, der sich Mitte der neunziger Jahre ebenfalls dem Bohème-Stoff (nach Henri Murger) zugewandt hatte, aber seine Oper „Bohème“ (1897) erst ein Jahr nach Puccinis Publikumserfolg herausbringen konnte.
Im Zentrum der Opernhandlung, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris, insbesondere im Quartier Latin, spielt, stehen vier Künstler und Bohemiens, die ihr Dasein in äußerer Armut fristen, aber beseelt sind vom inneren Reichtum künstlerischen Strebens. In einem ungeheizten Dachatelier versuchen der Dichter Rodolfo, der Maler Marcello, der Philosoph Colline und der Musiker Schaunard den Widrigkeiten der Wirklichkeit Paroli zu bieten, die unter anderem in Gestalt des Vermieters Benoît, der das Wohngeld kassieren will, auf sie eindringt. Dieser Handlungsstrang, in dem vor allem Humor und Situationskomik dominieren, verflicht sich mit zwei weiteren, in denen das Kokette wie auch das Tragische vorherrschen: in der Liebe zwischen Marcello und der Sängerin Musetta regieren Eifersucht und Spiel, in der Liebe zwischen Rodolfo und der Näherin Mimì bitterer Ernst und tiefe Tragik, denn am Ende stirbt die todkranke Mimì in den Armen ihres verzweifelten Geliebten Rodolfo.
Diese drei Hauptstränge der Opernhandlung werden von Puccini und seinen Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica außerdem um weitere Episoden bereichert, die beispielsweise nicht nur dem Weihnachtstrubel im Pariser Quartier Latin und dem Spielzeugverkäufer Parpignol eine Bühne bieten, sondern die es zugleich dem Komponisten erlauben, sein musikalisches Können wie in einem Feuerwerk aufblitzen und wunderschön verglühen zu lassen, um sich zugleich dem nächsten melodischen Geistesblitz zuzuwenden, bis auch dieser wieder farbenreich erlischt. Genau das macht auch den Reiz dieses Puccinischen Chef d’Œuvre aus: Die tragische Liebeshandlung zwischen Rodolfo und Mimì bildet gleichsam das ostinate Motiv, das immer hörbar bleibt, auch und gerade wenn es sich in die Verwicklungen zwischen Musetta und Alcindoro bzw. Musetta und Marcello mengt, weil es letztlich auch deren Züge trägt.
Die Regisseurin Andrea Moses hat diesem Nebeneinander der Handlungsstränge sehr schön Rechnung getragen, vor allem im zweiten Bild der zweiaktigen, aus vier Bildern bestehenden Oper. Vor einem mit dem Friedenssymbol (oder ist es ein Mercedesstern?) geschmückten Weihnachtsbaum tummeln sich der Kinderchor, der Staatsopernchor und die Statisterie der Oper Stuttgart, obendrein noch die Gesangssolistinnen und -solisten, und doch bleiben angesichts des allgemeinen Trubels und trotz der gelegentlichen Fokussierung auf Musetta, Alcindoro und Marcello das tragische Liebespaar Mimì und Rodolfo immer wahrnehmbar, wie ein ostinates Gegenbild, wie ein tiefer Einspruch gegen die oberflächliche Festesfreude, die das Bühnenbild (Bühne: Stefan Strumbel) durchherrscht.
Einen weiteren Hinweis auf die Doppelbödigkeit der Opernhandlung bildet auch der durchweg gelungene Einsatz von Videokunst (Video: Adrian Langenbach, Anne Bolick). Bühnenszenen werden mit der auf ein Stativ gepflanzten Filmkamera oder mit einer Handkamera abgefilmt und synchron dazu auf einer frontal zum Publikum aufgestellten Videowand sichtbar, bis die jeweilige Handlungssequenz, die auf der Bühne stetig weitergeht, im Video abrupt in einem ‚Film still’, einem Standbild, endet. Das solchermaßen still gestellte Bild fungiert als Erinnerung an den erfüllten Augenblick des Erlebten und wirft zugleich seinen Schatten auf das tragische Ende der Oper voraus: Der im Bild erstarrte Moment wird zum mahnenden Memento mori!
Ein kritischer Einwand kann jedoch an dieser Stelle nicht ausgespart bleiben! Gerade beim Einsatz von Videokunst auf der Opernbühne muss auf absolute Perfektion, und an dieser Stelle heißt das: auf exakte Synchronizität, geachtet werden. Es geht nicht an, dass die Mimì auf der Videowand ihren Mund zeitversetzt öffnet und schließt, entgegen dem Gang der Musik und den Lippenbewegungen der realen Bühnengestalt.
Musikalisch ist die Stuttgarter „La Bohème“ wieder ein Genuss! Der amerikanische Dirigent und Erste Kapellmeister der Oper Stuttgart Simon Hewett beflügelt das Staatsorchester Stuttgart im Orchestergraben, und oben auf der Bühne begeistern der brasilianische Tenor Atalla Ayan als Rodolfo und die südafrikanische Sopranistin Pumeza Matshikiza als Mimì. Ihnen in nichts nach steht die japanische Sopranistin Yuko Kakuta als Musetta, die stimmlich überzeugt und deren Bühnenpräsenz, gerade im zweiten Bild des ersten Aktes, das Publikum mitreißt. Schauspielerische Einlagen, etwa des amerikanischen Bassisten Mark Munkittrick als Benoît, runden den gelungenen Gesamteindruck der Produktion ab, deren tragisch-ostinaten Bezugspunkt die schwindsüchtige Mimì bildet, von der ihr Geliebter Rodolfo schwärmt: „Ich bin der Poet, und sie ist die Poesie!“