Acht ganze Wochen Sommerpause auf Staatskosten – ein Wunschtraum! Musiker westeuropäischer Ensembles täten hierfür gerne mit Berufsfachkollegen aus Bukarest und dem Karpatenland tauschen. Bei genauerem Hinhören und Zuschauen jedoch bietet das sinfonische Rumänien dürftige Arbeitsbedingungen. Ungeachtet wunderschöner Aufführungsorte in etlichen Kreishauptstädten fehlt zeitgemäße Infrastruktur. Im Spiegel des 21. Jahrhunderts behalten wenige altehrwürdige Häuser ihre stattliche Größe. Eine der Ausnahmen ist das rumänische Opern- und Theaterhaus der ehemaligen Habsburger-Metropole Klausenburg/Cluj-Napoca. Es kann 928 Personen fassen und rühmt sich stolz als Sprungbrett künftiger Weltopernstars. Mit nicht weniger Edelanstrich behaftet ist das Bukarester Athenäum, worin die George-Enescu-Philharmonie ihre Tätigkeit entfaltet. Leider kann es spätromantische Literatur für acht Kontrabässe und entsprechend hohe Pultanzahl weiterer Instrumentengruppen nicht ausreichend bedienen. Das Athenäum ist schön, aber schlicht zu klein für den alle zwei Jahre steigenden Weltreigen des Enescu-Festivals. Mehr Sitzplätze auf Hauptstadt-Ebene bietet der Mihail-Jora-Konzertsaal des Rumänischen Rundfunks, doch lässt auch er sich nicht zur Bühne für tonangebende Orchester aus Amsterdam, Berlin, Dresden, London und Moskau erweitern.
Husten und Stühleknarzen lösen die Monate Juli und August ab. Tutti-Spieler, Pultführer und Konzertmeister haben ihre Energiespeicher entspannt auffüllen können und schicken sich an, Pläne für zehn Monate lang gesunde Dauerleistung zu schmieden. Auf jeden goldenen Herbst folgen ein eiskalter Januar und Februar. Es ist kein Leichtes, bei Außentemperaturen von minus 20 Grad Prokofjew und Schostakowitsch nach Maß zu interpretieren, und wenige Monate später das alljährliche Spielzeitfinale zu bewältigen, wenn der Maestro bei 35 Grad im Schatten Ravel oder Richard Strauß fordert, Nachfragen die Kapazität des Konzertsaales übersteigen und nirgendwo eine Klimaanlage surrt. Fordern Rumäniens Orchestermusiker höhere Gehaltssätze oder fortschrittlichere Qualität der Räumlichkeiten und Arbeitsausstattung? Nachwuchsgenerationen suchen verstärkt Letzteres.
Die Gheorghe-Dima-Musikakademie Klausenburg ist nach wie vor Mieterin einer Immobilie, die rechtmäßig dem Inventar der griechisch-katholischen Kirche Rumäniens zusteht. Seit bald 30 Jahren schon ist das Fortbestehen des Talentschuppens vom Nicht-Auszug aus diesem Quartier abhängig. Ein heikles Politikum der Regionalverwaltung, das dringend auf zukunftsorientierten Lösungsansatz im allseitigen Einvernehmen wartet. Gleichsam verkorkst auch die Sachlage rund um die Spielstätte der 1955 gegründeten „Transilvania“-Staatsphilharmonie im Audiotorium Maximum der Babeș-Bolyai-Universität (UBB), das auf den Plakaten des Eliteorchesters als „Colegiul Academic” geführt wird. Knapp 50 Jahre hindurch war der Aufführungsort als „Casa Universitarilor“ bekannt gewesen, ehe Ex-Rektor Andrei Marga die Staatsphilharmonie im barschen Sofortmodus vor die Türe setzte. Schneidiger Hass auf den nachmaligen Kultusminister hat sich tief in das musikalische Langzeitgedächtnis Klausenburgs eingegraben. Nach zehn Jahren Umherirren durch das studentische Gewerkschaftskulturhaus und den zimmermäßig trockenen Konzertsaal der Musikakademie wurde die Staatsphilharmonie erneut im Festsaal der UBB willkommen geheißen und bislang kein weiteres Mal des Raumes verwiesen. Trotzdem bleibt beiderseits eine Narbe zurück. Musikakademie und Staatsphilharmonie stehen wörtlich Tür an Tür, doch hat man hier wie dort keinen Plan B verfügbar und folglich Angst vor Nichtverlängerung der Nutzungsverträge. Auch stoßen ehrgeizige Visionen auf Kompetenz-, Struktur- und Kommunikationsmängel in Stadtbüros und Staatsministerien.
Unter gegebenen Umständen tönt die Spielweise der „Transilvania“-Staatsphilharmonie wie ein Beweis widerstandsfähiger Selbstbehauptung. Balkon, Logen und Parkett des Auditorium Maximum bieten selbst bei Vollauslastung von bis zu 1000 Ohrenpaaren eine angemessene Konzertkulisse. Der Klang des Festsaales braucht sich nicht hinter Klausenburgs größtem Orchester zu verstecken. Aktuell aber wartet er auf den Drehschwindel spät anlaufender Mühlräder. Gähnend leere Zuschauerränge am Dienstagabend, dem 3. September, ließen Geisterstimmung aufkommen, die hingegen keine vier Wochen später von der Universitätsstadt erfahrungsgemäß wettgemacht worden sein wird. Es war keine vorteilhafte Fügung, den allerersten Aufführungsabend des Arbeitsjahres 2019/2020 mit drei Werken der in Rumänien unbekannten Autorin Lera Auerbach (Jahrgang 1973) zu bestreiten. Hätte das zwei Tage später anstehende Gastspiel mit ein und demselben Programm im Mihail-Jora-Konzertsaal Bukarest anlässlich des Enescu-Festivals 2019 nicht auf dem Aufgabenplan der „Transilvania“-Staatsphilharmonie gestanden, würde ein Großteil der Orchestermitglieder die eigene Zeit vermutlich in andere Aktivitäten investiert haben. Die aus dem russischen Tscheljabinsk gebürtige Schriftstellerin, Malerin, bildende Künstlerin und Pianistin Lera Auerbach stand persönlich am Pult. Mitstreiterinnen in Hauptrollen waren die Mitglieder des 2006 in Hamburg gegründeten „Boulanger“-Klaviertrios Birgit Erz (Violine), Ilona Kindt (Violoncello) und Karla Haltenwanger (Klavier), Interpretinnen der Solopartien in der eröffnenden „Serenade for a melancholic sea for violin, violoncello, piano and string orchestra“.
Streicherinnen und Streicher ließen sich trotz geringer Zuschaueranzahl nicht den Wind aus den Segeln und Noten des zehnminütigen Programmstückes nehmen. Derselbe unstreitbar professionelle Zugriff zog sich auch durch das Cross-over-Stück „A two fold dream (after W. A. Mozart KV 299 and KV 315) for violin, piano and orchestra“, das zentrale Zitate des Konzertes für Flöte, Harfe und Orchester in C-Dur und des Andante in C für Flöte und Orchester in einen leicht zugänglichen und für das 21. Jahrhundert spezifischen Lichtwechsel zwischen Alt und Neu stellte. Letzte, längste und instrumental reichste Station des Abends war Lera Auerbachs 2006 von den Düsseldorfer Symphonikern uraufgeführte Sinfonie Nr.1 „Chimera“ für große Besetzung. Ikarus, die kleine Meerjungfrau und das Ungeheuer der griechischen Sage Chimaira transzendieren aus der Partitur, die zwei Harfen, Celesta, Klavier, Cembalo, vier Schlagzeugpartien und das 1920 patentierte Theremin mit auflistet. Carolina Eyck, Komponistin deutsch-sorbischer Herkunft, spielte das auf Elektromagnetfeld-Veränderung reagierende und ohne Handberührung Töne erzeugende Instrument von der Klangfarbe einer singenden Säge.
Kleines Publikum, großer Applaus. Im Auditorium Maximum der UBB erhielten Lera Auerbach und das Orchester der „Transilvania“-Staatsphilharmonie Wertschätzung. Schade nur, dass die pflichtbewussten Gäste aus Klausenburg zum Zeitpunkt der Matinee am Donnerstagnachmittag, dem 5. September, um 15 Uhr im Mihail-Jora-Konzertsaal des Rumänischen Rundfunks Bukarest von einem 50-köpfigen Publikum begrüßt wurden. Abseits allabendlicher Glanzveranstaltungen mit führenden Weltensembles in der unzeitgemäßen Sala Palatului strandet Musik des 21. Jahrhunderts oftmals im Niemandsland des Enescu-Festivals.