Der erste Eindruck ist farbenfroh. Globen und Gitarren, mit Formen und Figuren übersät – Pfeile, Augen, Spiralen. Sie erinnern an Comics, an Graffiti, an Kritzeleien, wie man sie oft am Rand des Notizblocks produziert. Gypsy-Romantik mit einem Schuss Naivität. Und alles so schön bunt! Endlich mal keine künstlerisch ausgebeutete Armut, keine Effekthascherei mit grauen Slumbildern und hungrigen Kinderaugen in Lumpen. Auch die Buntheit ist freilich nur Fassade...
„Wahrheit, was heißt das für meine Community?“ steht unter einem der Kunstwerke in der vom österreichischen Kulturforum nach Bukarest gebrachten Ausstellung „Have a look into my life!“ über Roma-Kunst aus Europa, die vom 19. März bis 8. April im Hanul Gabroveni zu sehen war. „Wir kennen die Wahrheit über uns, nicht die anderen“ geht es weiter. „Alle auf der ganzen Welt glauben zu wissen, wer wir sind, was wir sind, was unsere Sprache ist, wie wir aussehen und was wir sein sollten. Ich glaube, es ist Zeit für uns, die eigenen Wahrheiten auszusprechen, egal was die anderen denken.“
Die Ausstellung ist nur der Auftakt zu einer Aufforderung, einen differenzierteren Blick hinter die bunte Fassade des Lebens der Roma zu werfen. Was bedeutet es heutzutage, Roma zu sein? Dies vermittelten zwei weitere Veranstaltungen im Rahmen des Projekts: eine kontroverse Diskussion unter Schülern des Shukar-Debattierclubs zum Thema Diskriminierung; und vier wahre Geschichten von Roma-Frauen, dargestellt von der Schauspielerin Mihaela Drăgan im Dokumentar-Theater „Del Duma“. Zur Abrundung des Bildes dann noch eine Lektion in Geschichte: der preisgekrönte Film „Aferim!“ des rumänischen Regisseurs Radu Jude erzählt aus einer Zeit, in der Roma in Rumänien als Leibeigene lebten.
Was ist anders?
„Nie fühlte ich mich fremd, in keinem Land in dem ich bisher gelebt oder das ich besucht habe“, beginnt ein weiterer Text. „Ich gehöre keiner Nationalität an, keinem Land und keiner bestimmten Region. Ich gehöre der ganzen Welt, denn meine Heimat ist nicht auf einen Flecken Erde reduziert, auf eine Nationalität, eine Sprache, oder ein Land mit seinen Bräuchen und Traditionen.“ Manche Bekenntnisse der Künstler lösen Empathie in mir aus, andere Verständnis oder gar Sehnsucht – keines aber Befremden. Ihre Probleme sind denen der unseren manchmal frappierend ähnlich: Identifikation. Diskriminierung. Suche nach Identität.
Mitglieder aller Minderheiten kennen das. Und wer hat noch nie erlebt, wie es sich anfühlt, abgelehnt, ausgegrenzt oder chancenlos zu sein, aus welchen Motiven auch immer? Wenn Soziologin Elena-Garofi]a Rupa von Diskriminierung in der Kindheit erzählt, von ihrer Unfähigkeit, darauf zu reagieren, weil niemand sie vorbereitet hatte... dann erkennen sich viele wieder. Herkunft, Musikgeschmack, Interessen, Aussehen oder ein unpopulärer Name – unzählige Gründe gibt es für Ausgrenzung in jeder Gesellschaft, vor allem in der Schule. Und doch tappen selbst Diskriminierte immer wieder in die Falle zu diskriminieren. In Gedanken, in Gefühlen, oft unversehens. Wenn die Veranstaltungsreihe etwas verdeutlicht, dann vor allem dieses: Es gibt ihn nicht, den „typischen Roma“! Es gibt solche und solche. Wie überall.
Was also ist anders? Das kollektive Bewusstsein? Der häufige Armutshintergrund? Die traditionelle, in sich geschlossene Lebensform traditioneller Roma-Gemeinschaften, in der es kein „mein“ und „dein“ nach unseren Vorstellungen gibt? Die strenge gegenseitige Kontrolle und das Misstrauen gegenüber den Behörden? Der historische Hintergrund der Leibeigenschaft? Oder der mit unseren Moralvorstellungen unvereinbare Brauch der „Kinderehe“? Obwohl, wie Garofi]a zu bedenken gibt, auch in Nichtroma-Gesellschaften Sexualität immer früher praktiziert wird...
Von Zielen träumen lernen
Mit Ana-Maria Duminică, der Kollegin von Gelu Duminică, dem Leiter der NGO „Impreună“, die letztes Jahr den Preis des „International Achievement Awards“ des österreichischen Außenministeriums gewonnen hat, komme ich auf der Ausstellung ins Gespräch. Sie kann mehr von dem prämierten Projekt berichten, das mithilfe eines Films über erfolgreiche Vorbilder aus der Roma-Gemeinschaft Schulkindern zeigen sollte: Bildung lohnt sich, wenn ihr Träume habt, steht auch euch die Welt offen. Der Dokumentarfilm „Was willst du werden, wenn du groß bist?“ wurde im Rahmen der mit Unicef zusammen veranstalteten Aufklärungskampagne „Hai la {coala“ (Komm in die Schule) in über 130 Schulen gezeigt. Begleitet von einigen Hauptdarstellern, damit die Kinder auch begreifen, dass es diese Leute wirklich gibt. Dass es nicht nur Schauspieler sind, sondern Lehrer, Ärzte, Sozialarbeiter, Polizisten, Pfarrer.
„Als wir die Kinder vorher nach ihren Berufswünschen fragten“, erzählt sie, „kamen zuerst milieutypische Antworten – Frisöse oder Maurer – was die Kinder von zuhause her kannten.“ Nach dem Film wurde die Frage dann erneut gestellt. „Die Reaktionen waren verblüffend“, freute sich Ana-Maria. Ein Junge, der zuerst Maurer werden wollte, träumte auf einmal vom Arztberuf. Ein Mädchen entdeckte in der Sozialarbeiterin Oana ihr großes Vorbild. „Als wäre Oana aus meinen Träumen gemacht“, formuliert es die Siebtklässlerin Andreea später, als sie Ana-Maria Duminică kennenlernte. Denn einen Tag, nachdem der Film in ihrer Schule gezeigt wurde, hatte ihre Mutter bei „Impreună“ angerufen: Noch nie hätte sie ihr Kind so verändert erlebt, erzählte sie der fremden Frau. So hätte sie sich über die NGO informiert und bat sie, Andreea zu helfen. „Impreun²“ vermittelte daraufhin ein Treffen zwischen Fan und Vorbild. Bewegt berichtet Ana-Maria Duminic², wie sich die Mädchen spontan in die Arme fielen und weinten. „Ich sagte dann zu Andreea: Wie schwer es dir auch jemals sein mag – den heutigen Tag sollst du nie vergessen!“
Die Kinder zu motivieren, ist ein Ziel des Projekts, doch fast wichtiger ist es, zu den Eltern vorzudringen. Daher gibt es einen zweiten Teil des Projekts, in dem ein Informationspaket an die Lehrkörper verteilt und gemeinsame Elternabende durchgeführt werden. Darin vermittelt der Film „Ilie“, an Roma-Traditionen und -Werte anknüpfend, wie großartig es sein kann, als junger Roma für seine Zukunft zu kämpfen.
Erfolgreich Interessen vertreten: Debattieren im Shukar-Club
„Shukar“ – das bedeutet fein oder toll auf Romani, erklärt der Leiter des Debattierclubs für Schüler, Emanuel Beteringhe. Vor dem Publikum sitzen sich zwei Gruppen gegenüber: Ioana und Dora als „Regierung“, Mădălina und Georgiana als „Opposition“. In je sechs Minuten müssen sie ihren Standpunkt zum Thema Diskriminierung vorbringen, auf die Vorredner eingehen, Lösungen vorschlagen. Dabei geht es um die Frage: Soll die Roma-Elite als Lobby oder lieber die Basis der Armen unterstützt werden? Mădălina ist überzeugt: Ausbildung ist auch Kampf gegen Diskriminierung. Doch wer zuhause kein Licht hat, kann schwer motiviert werden, seine Kinder zur Schule zu schicken. So entsteht ein Teufelskreis: kein Schulabschluss – kein Job – keine Selbsterhaltung – und wieder kein Geld für die Schule.
Sollen Eliten motiviert werden, die Basis zu unterstützen? Was ist mit falschen Eliten oder den unsichtbaren Roma, die sich nicht mehr zu ihrer Ethnie bekennen? Dora hält einen Imagewechsel mithilfe der Medien für essenziell: Das öffentliche Bild muss positiver werden, Stereotypen müssen eliminiert werden. Also doch Eliten an die Front? Georgiana greift die Problematik fehlender Akten und Schwarzarbeit auf. Eine Unterstützung der Eliten würde die Schere zwischen Arm und Reich nur weiter aufklaffen lassen, meint sie.
Seit vier Monaten trainiert der Shukar Club auch für Wettbewerbe und verzeichnet erste Erfolge. Neben Redefertigkeit steht in Zukunft auch Schreiben im journalistischen Stil auf dem Trainingsprogramm. „Heute soll auch Andreea die vier Mädchen kennenlernen“, hat Ana-Maria Duminică bereits geplant.
Vier Schicksale, viele Meinungen
„Del duma – erzähl ihnen von mir!“, so nennt sich das Dokumentationstheater der Schauspielerin Mihaela Drăgan, die sich als halb Rumänin, halb Romni zu erkennen gibt. „Meine bessere Hälfte“, fügt sie zu Letzterem scherzend hinzu. Mit der Jeans schlüpft sie abwechselnd in bunte Röcke und Brautkleid, und damit in die Rollen von vier Roma-Frauen, deren wahre Lebensgeschichten sie uns näher bringt. Von der Zerrissenheit zwischen der traditionellen Roma-Gemeinschaft und der modernen Gesellschaft ist die Rede – von den Einschränkungen ersterer, vor allem für Frauen: Kontrolle, Schulabbruch, Frühehe, denn nur Mutterschaft bringt Erfüllung.
Ein Leben ohne Kinder ist für diese Gemeinschaft ohne Sinn, erklärt Garofi]a, die – mit 24 kinderlos – dort als abschreckendes Beispiel gilt. Nicht alle Roma teilen diese Werte. Mihaela berichtet auch von jenen, die daran zugrunde gingen: Dem Mädchen, das den Freitod wählte, weil es nicht heiraten wollte. „Ich bin die Schule“, schrieb es als letzte Botschaft an die Wand. Ein anderes flüchtete sich in eine neoprotestantische Sekte, „weil mir die Wahrscheinlichkeit, einen Mann zu finden, der dort Mitglied und gleichzeitig Roma ist, gleich Null erschien“.
Am Ende der Vorstellung steht Soziologin Elena-Garofiţa Rupa dem Publikum für Fragen zur Verfügung. Weil sie Stereotype vermeiden will, vergleicht sie vieles mit persönlichem Erleben. Offen erzählt sie von der Verbundenheit, die sie zu ihrer Familie empfindet – aber auch über die daraus resultierende innere Zerrissenheit. Von ihren jungverheirateten Schwestern, die sie zu überzeugen versuchte: Es gibt auch eine andere Art zu leben! „Doch sie sind glücklich so, also muss ich ihre Entscheidung akzeptieren“ gesteht Garofiţa. Sie urteilt nicht, doch oft hat sie Tränen in den Augen. Vor allem wenn sie über Diskriminierung spricht. Eine sympathische, intelligente, feinfühlige junge Frau – wer würde sie nicht gern zur Kollegin haben, vielleicht mit ihr befreundet sein? Und doch gibt es eben manchmal diese Mauer, weil sie aus einer anderen Welt kommt. Ihre Träume verarbeitet Garofiţa, indem sie als Volontärin bei „Impreuna“ anderen Roma-Kindern hilft, sich zwischen den Fronten zurechtzufinden. Zudem schreibt sie an einer Doktorarbeit zum Thema „Frühehe“.
„Warum bin ich Roma?“ steht in krakeliger Handschrift über einem Aufsatz in der Ausstellung. Darunter schreibt Vasile Andrei aus der zweiten Klasse des Lyzeums: „Ich bin stolz, Zigeuner zu sein“. Den „Zigeuner“ streicht er wieder durch. Lehrer für die Romani-Sprache möchte er werden, bekennt der Junge dann, „damit ich die Leute stolz machen kann, dass sie Roma sind“. Lieber Vasile: Wenn du deine Ziele, welche auch immer es sein mögen, erreichst, kannst du stolz auf dich sein. Nicht weil und nicht trotzdem, sondern selbstverständlich auch wenn du Roma bist.