Das Theater am Schiffbauerdamm in Berlin kann auf eine mittlerweile über 120-jährige traditionsreiche Geschichte zurückblicken. Dort wurden zum Beispiel Gerhart Hauptmanns Drama „Die Weber“ oder die „Dreigroschenoper“ von Bertolt Brecht und Kurt Weill uraufgeführt, dort war Max Reinhardt Theaterdirektor, dort führte Gustaf Gründgens Regie.
Bekannt wurde das Theater am Schiffbauerdamm vor allem durch das Berliner Ensemble, das 1949 von Bertolt Brecht und Helene Weigel gegründet wurde und 1954 in den nach Kriegsbeschädigungen schlichter wiedererrichteten wilhelminischen Prachtbau einzog. Im heutigen Foyer des Theaters erblickt man, an der Wand in Stein gemeißelt, einen Spruch von Brecht aus der Nachkriegszeit: „Theater spielt ihr in Trümmern hier / Nun spielt in schönem Haus, nicht nur zum Zeitvertreibe / Aus euch und uns ersteh ein friedlich WIR / Damit dies Haus und manches andre stehen bleibe!“ Haus und Ensemble wurden im Laufe der Zeit zu einer solchen Einheit, dass man heute, wenn man vom Berliner Ensemble spricht, nicht nur die Schauspielertruppe, sondern auch das Theatergebäude meint.
Seit dem Beginn der Amtszeit des gegenwärtigen Intendanten Claus Peymann im Jahre 1999 widmet sich das Berliner Ensemble insbesondere der zeitgenössischen deutschsprachigen Dramatik, neben Werken deutscher Klassiker und Theaterstücken der Weltliteratur. Zum gegenwärtigen Repertoire des Berliner Ensembles zählen beispielsweise Dramen von Lessing, Goethe, Kleist, Büchner, Wedekind und Brecht, Schauspiele von Shakespeare, Gorki, Tennessee Williams, Samuel Beckett und Yasmina Reza, Stücke von Max Frisch, Thomas Bernhard oder Rolf Hochhuth.
Zu den wichtigen Premieren am Berliner Ensemble zählten in der jüngsten Vergangenheit „Der kaukasische Kreidekreis“ von Bertolt Brecht (Premiere: 23. April 2010) und „Der Kirschgarten“ von Anton Tschechow in der Übertragung und Bearbeitung von Thomas Brasch (Premiere: 29. Oktober 2011).
„Der kaukasische Kreidekreis“, 1944/45 von Brecht im amerikanischen Exil verfasst, zählte zu den ersten Stücken, die nach dem Einzug des Berliner Ensembles in das Theater am Schiffbauerdamm gespielt wurden, damals mit Helene Weigel in der Hauptrolle der Magd Grusche. Die erste Aufführung am 7. Oktober 1954 war zugleich die erste Aufführung des Stückes in deutscher Sprache. Die jüngste Inszenierung des „Kreidekreises“ am Berliner Ensemble stammt von Manfred Karge, der auch für das Bühnenbild verantwortlich ist, die musikalische Leitung (Musik von Paul Dessau) liegt in den Händen von Alfons Nowacki.
Das im wahrsten Sinne des Wortes epische Drama wird von einer Erzählerfigur, dem Künstler aus der Hauptstadt (Norbert Stöß), narrativ begleitet. Er zeigt dem Publikum nicht nur die Rollen der übrigen Schauspieler, sondern auch seine eigene, etwa wenn er das Kostüm des Banditen Irakli ablegt und sukzessive wieder zum Künstler wird.
Dramatischer Gegenpol seiner Rolle ist der mit Dieter Montag ebenfalls hervorragend besetzte Richter Azdak, der in seiner Widersprüchlichkeit und Unberechenbarkeit nicht nur zur Quelle wahrer Dramatik wird, sondern auch dem im Stück angelegten Plakativen und Stereotypenhaften (die Guten und die Bösen, die da unten und die da oben) entgegenwirkt. Das Epische im Brechtschen Sinne wird zudem durch das Puppen- und Marionettenhafte insbesondere der Nebenfiguren, etwa des Mönchs oder des Fürsten Kazbeki (beide verkörpert von Georgios Tsivanoglou), unterstrichen.
Anna Graenzer besticht in der Hauptrolle der Magd Grusche, auch in den diversen Songeinlagen, während Karges Regie die Gouverneurswitwe (Marina Senckel) zu sehr aus dem Realen ins Karikierende rückt. Mit sparsamen Mitteln und wenigen Requisiten auf einer nach hinten leicht ansteigenden Bühne mit einem Türspalt als Fluchtpunkt gelingt dem Berliner Ensemble eine überzeugende Inszenierung des „Kreidekreises“, der seinem ideologischen Impetus nach den Gebrauchswert über den Warenwert und das Gewöhnliche und Solidarische über das Hohe und Herrschaftliche stellt.
Wie im „Kreidekreis“, so steht auch in Tschechows „Kirschgarten“ ein Kind im Zentrum. Während Grusche aber den kleinen Michel vor dem Tode rettet, ist der Sohn Peter der Besitzerin des Kirschgartens schon längst ertrunken, bevor das Tschechowsche Drama überhaupt einsetzt. Wie der Kreidekreis, so symbolisiert auch der Kirschgarten die Zuspitzung eines existenziellen Problems, die Frage nach einer lebenswerten Zukunft.
Ob die beiden Töchter der Gutsbesitzerin am Ende auf dem richtigen Weg sind, bleibt offen: die junge Anja, die von dem Studenten Trofimow zu einem Leben jenseits der Liebe überredet wird, und die ältere Warja, die von einer Ehe mit Lopachin, dem Käufer des Kirschgartens, zwar träumt, aber von diesem keinen Heiratsantrag erhält. Leider ist die Rolle der Gutsbesitzerin mit Cornelia Froboess altersmäßig fehlbesetzt, während Jürgen Holtz den 87-jährigen Diener Firs mit Bravour verkörpert.
Der Übersetzer Brasch hat für die Rolle des Firs sogar noch eine Szene in das Drama mit hineingenommen, die Tschechow für Stanislawski, den Regisseur der Uraufführung 1904, gestrichen hatte: Darin erzählt Firs von seinem Aufenthalt im Gefängnis und dann von einem Sack an einer Wegkreuzung, in dem ein anderer Sack steckt, in welchem es auf merkwürdige Weise rumpelt und pumpelt.
Eine Tschechow-Atmosphäre, die das Ausweglose vorgezeichneter Existenz, die Lähmung tatkräftiger Entschlossenheit bis in die letzte Fiber der dramatischen Handlung durchwaltet, lässt der Regisseur Thomas Langhoff nicht wirklich entstehen, vielmehr ersetzt er, im eklatanten Fall des Kontoristen Jepichodow, Tragik durch Klamotte. Doch die guten schauspielerischen Einzelleistungen (besonders hervorzuheben Martin Seifert als Gajew und Robert Gallinowski als Lopachin) trösten über Schwächen der Regie hinweg und machen auch den „Kirschgarten“ zu einer sehenswerten Produktion des Berliner Ensembles im Theater am Schiffbauerdamm.