Robert Schumann (1810-1856) hätte im Thaliasaal allen Grund gehabt, sich zu freuen. Unter der Leitung des Dirigenten Horváth Gábor spielte das Sinfonieorchester der Staatsphilharmonie Hermannstadt/Sibiu die ersten Tutti-Akkorde der „Manfred“-Ouvertüre op. 115 blitzsauber und gleitete derart unmerklich durch den ersten Tempowechsel, dass man beim Zuhören gar nicht erst nachvollziehen konnte, an welchen Stellen Schumann die Vorgaben „Nach und nach rascher“ und „In leidenschaftlichem Tempo“ notiert haben könnte. Unvermittelt fand man sich in den virtuosen Kaskaden der Violinen wieder und konnte sich an den langsamen Beginn der Ouvertüre erinnern, nicht aber an die schwierige Ausarbeitung der unterschiedlichen Tempi, die unglaublich organisch aufeinander abgestimmt waren. Am Abend des 8. März starteten Gastdirigent Horváth Gábor und die Orchestermusiker glücklich in das Programm des 24. Abonnement-Konzerts der Hermannstädter Staatsphilharmonie und inszenierten die martialische Posaunen-Coda und den erstarrenden Schluss der „Manfred“-Ouvertüre für großes Orchester ebenso ausgeklügelt wie die Einleitung desselben Stückes. Aus verständlichen Gründen muss einem Mittelklasse-Orchester der Zugang zu den Berühmtheiten der weltweiten Dirigentenszene verwehrt bleiben. Wenn aber ein geduldig arbeitender Kapellmeister vorne steht, läuft auch das Sinfonieorchester der Hermannstädter Staatsphilharmonie zu seiner eigenen Höchstform auf. Und die kann sich hören lassen.
Rebekka Hartmann gestaltete Felix Mendelssohns Violinkonzert in e-Moll op. 64 mit einer beeindruckenden Stilsicherheit und Eleganz. Uraufgeführt wurde es 1845 von Ferdinand David, doch beachtete die Solistin streng das Gebot der Sprache des beginnenden 19. Jahrhunderts, da Mendelssohn als Mozart der deutschen Romantik schlechthin gilt. Rebekka Hartmann begann als Fünfjährige mit dem Violinunterricht nach der kinderfreundlichen Suzuki-Methodik und spielte in Hermannstadt einen schillernden Geigenton, der das eindeutige Ergebnis der horizontalen Bewegung der Bogenhand und nicht etwa des vertikalen Drucks auf die Saite ist. Die Solistin unterstützte ihre technische Leichtigkeit durch eine flexible Körpersprache, indem sie ständig den Blickkontakt zum Dirigenten und die Koordination mit den Bläserreihen des begleitenden Orchesters suchte. Dass die berühmt-berüchtigten staccato-Ostinati der Klarinetten und Fagotte und die schwebenden Melodien der Solovioline nicht immer hundertprozentig ineinander zahnten, brachte weder Horváth Gábor noch Rebekka Hartmann aus der Geduld. Weder die Solistin, der Dirigent noch die Orchestermitglieder waren sparsam darauf bedacht, nur ihr eigenes Ding zu drehen. Das Gegenteil gleichgültiger Haltung war bei diesem Repertoirestück aber ohnehin nötig, weil Mendelssohn sehr schnell empfindlich reagiert, wenn man ihn unterschätzt. Rebekka Hartmann war sich ihres künstlerischen Auftrags überaus bewusst und lieferte dem transparent artikulierten Violinkonzert Mendelssohns die „Gavotte en Rondeau“ und das „Prelude“ aus Bachs Partita nr. 3 in E-Dur für Solovioline BWV 1006 nach, wofür sie begeisterten Beifall erntete.
Vielleicht mag ihre sanfte Herangehensweise dem ein oder anderen Zuhörer aufgefallen sein. Wenn es darum ginge, Tschaikowsky oder Sibelius zu interpretieren, bräuchte Rebekka Hartmann ihre Stradivari aus dem Jahre 1675 gar nicht erst auszupacken und wäre bereit, Stehgeigern wie beispiels-weise Alexandru Tomescu oder Remus Azoiței das Feld zu überlassen. In Sachen Mendelssohn aber verkörpert Rebekka Hartmann das Non-plus-Ultra der nüchternen Spielkultur aus dem deutschen Sprachraum Europas. In den Reihen der aktuellen Violingrößen Rumäniens ist – von ein paar lobenswerten Ausnahmen abgesehen – gegen die resistente Klangsüße der rechten Hand deutscher Musiker bislang noch kein Kraut gewachsen. Rebekka Hartmann und Beethoven-Violinkonzert, das wäre ebenfalls eine Aufführung wert!
Unter Felix Mendelssohns Intendanz erlebte seinerzeit das Gewandhausorchester eine Auferstehung wie Phönix aus der Asche, wenn man daran denkt, dass der berühmte Wahl-Leipziger die Tonsprache der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht gemocht haben konnte. Man darf also entsprechend radikal mit dem Radiergummi all das entfernen, was 170 Jahre Musikgeschichte aus dem Mendelssohn-Violinkonzert gemacht haben, ohne Angst haben zu müssen, dass man dadurch dem Stück Schaden zufügt. Hingegen besteht das Sakrileg fast eher darin, die Spuren der Spätromantik bewusst stehen zu lassen. Rebekka Hartmann optierte in Hermannstadt für die puristische Sparsamkeit und landete damit beim Publikum einen verdienten Erfolg. Da ist die Hoffnung berechtigt, dass sie in Hermannstadt auch einmal das Beethoven-Violinkonzert interpretieren könnte.
Horváth Gábor, 1975 in Budapest geboren, kennt den Orchesterbetrieb auch von innen heraus, da er als Geiger 1989 Mitglied des King St. Stephen Symhony Orchestra der Zugló Philharmonie Budapest wurde, die ihn 2001 zum Konzertmeister ernannte. Wenn man Horváth Gábor in Orchesterproben genauer beobachtet, erlebt man ihn als einen Maestro, der die musikalische Führung nicht als sein alleiniges Monopol betrachtet. Leider kommt er viel zu selten nach Hermannstadt, schafft es aber regelmäßig, die Orchestermusiker von deren ernster Verantwortung zu überzeugen. Diesen menschlichen Kunsttanz beherrschen nicht viele Dirigenten.
Schuberts 5. Sinfonie stand auf dem Programm, und Horváth Gábor demonstrierte in bester Art und Weise, dass auch Franz Schubert gerne ein paar zig Jahre früher gelebt hätte. Seine halbstündige 5. Sinfonie ist nichts anderes als eine musikalische Reverenz vor Joseph Haydn. Einziges Manko in der Aufführung im Thaliasaal waren die unzähligen Schlussakkorde jeder einzelnen Phrase in allen vier Sätzen der Schubert-Sinfonie. Weder Streicher noch Bläser waren fit genug, Schlusstöne immerzu als kompakte Gruppe geschlossen und kontrolliert abschwingen zu lassen. Obwohl einzelne Lichtschimmer hörbar waren, wird das geführte Abphrasieren einer Schlussnote in der Berufsausbildung im rumänischen Musikwesen noch nicht genügend unnachgiebig trainiert. Dabei machen aber kleine Feinheiten den großen Unterschied aus.
Bei Schumanns „Manfred“-Ouvertüre saß die volle Besetzung auf der Bühne, bei Schuberts 5. Sinfonie waren Pauken, Posaunen, Trompeten, Klarinetten und zwei der vier Hörner bereits nicht mehr nötig. Die Entwicklung von Groß nach Klein muss nicht zwangsläufig einen impliziten Abfall der Qualität bedeuten. Im Gegenteil, der Hermannstädter Staatsphilharmonie könnte sie gar den Zugang zu einer höheren künstlerischen Ebene ermöglichen. Langfristig werden in dünn besetzten Orchestern die menschlichen Ressourcen knapp, wenn Woche um Woche ein spätromantischer Brocken erarbeitet werden muss, und einzelnen Mitgliedern des gesamten Ensembles keine Zeit zur zwischenzeitlichen Erholung bleibt. Im Vergleich etwa zu der Transilvania-Staatsphilharmonie Klausenburg/Cluj-Napoca beschäftigt die Hermannstädter Staatsphilharmonie bedeutend weniger Orchestermusiker, verlangt ihnen aber denselben konstant ermüdenden Schwierigkeitsgrad ab. Es zeichnet sich deutlich ab, dass die künstlerische Leitung der Hermannstädter Staatsphilharmonie von dieser Gratwanderung Notiz genommen und seit Jahresbeginn ein Einsehen mit der begrenzten Leistungsfähigkeit der eigenen Orchestermusiker hat. Das kleine Hermannstadt kann auch ohne den Vergleich mit großen Musikstädten Maßstäbe setzen. Der Maßstab ist nicht eine Sache der Größe, sondern eine Frage der Qualität.