Der Film „Melancholia“, der auf den 64. Internationalen Filmfestspielen in Cannes im Mai dieses Jahres Premiere hatte, erlebte jüngst in mehreren europäischen Ländern, darunter auch in Rumänien, seinen Kinostart. Der dänische Filmemacher Lars von Trier, einer der umstrittensten und skandalträchtigsten europäischen Filmdirektoren der Gegenwart, hat bei diesem Meisterwerk Regie geführt und auch das Drehbuch zu diesem sehenswerten Film geschrieben, der in seinem Titel eine kosmische mit einer seelischen Katastrophe verquickt: „Melancholia“ heißt nicht nur die Krankheit, an der eine der beiden Hauptfiguren leidet und die wir heutzutage mit dem Begriff „Depression“ bezeichnen, „Melancholia“ heißt auch der Planet, der auf die Erde zurast und von dem niemand weiß, ob er sie völlig zerstören oder in einem berauschenden Himmelsschauspiel haarscharf an ihr vorbeiziehen wird.
Die Eröffnungssequenzen dieses über zwei Stunden dauernden Films setzen sich aus rätselhaften, faszinierenden und zugleich verstörenden Bildern zusammen, die nach der Art von Tableaux vivants in sich ruhen oder nur langsam und im Zeitlupentempo in Bewegung geraten. Man sieht eine Braut ganz in Weiß durch einen mitternächtlichen Wald eilen, in ihrer Hast von lianengleichen Fesseln gehemmt; man sieht einen schwarzen Hengst sich aufbäumen und sterbend zurücksinken; man sieht eine junge Frau ihre Arme in Gebetsgeste heben und kurz darauf tote Vögel vom Himmel fallen; man sieht eine Mutter mit Kind über einen Golfplatz eilen und dabei mit jedem Schritt im Rasen wie im Schlamm versinken; man sieht am Nachthimmel zwei Monde ihr fahles Licht auf die Silhouette eines Schlosses werfen.
Es ist die Atmosphäre einer surrealistischen Welt, wie sie uns aus den Bildern eines René Magritte oder Giorgio de Chirico in ihrer Fremdheit vertraut ist.
Wie sehr dieser Film der Malerei als Kunst verpflichtet ist, wird nicht nur an diesen Bildkompositionen deutlich, sondern auch durch direkte Bildzitate oder sogar durch Integration von Gemälden ins Filmgeschehen offenbar: So gleitet die junge Braut mit Brautstrauß und Schleier durch von Schilf und Lotos gesäumtes Wasser ganz nach der Art der berühmten „Ophelia“ von John Everett Millais; und Brueghels bekanntes Januarbild, das im Kunsthistorischen Museum in Wien hängt und eine verschneite Winterlandschaft mit über ihr kreisenden und in Bäumen hockenden Raben zeigt, wird zum Hintergrund für tot vor der Kulisse dieses Gemäldes herab fallende Vögel, bis sich das Bild, selbst Feuer fangend, in Asche verwandelt.
Auf diesen Prolog, der durch berückend schöne Bilder eines fremden Himmelsgestirns, das mit der Erde kollidiert, abgerundet wird, folgt dann der Beginn einer realistischen Filmerzählung, die jedoch von vornherein unter dem Unstern jener melancholischen Seelenlandschaft steht, wie sie der Prolog meisterhaft entfaltet hat. Man weiß sofort: In diesem Film gibt es keine hastenden Menschenmengen zu sehen, die von irgendwelchen Flutwellen verschlungen werden, wie dies in „Independence Day“, in „The Day After Tomorrow“ oder in anderen Desasterfilmen ausgiebig gezeigt wird. Hier geht es um die Darstellung einer inneren Katastrophe, die längst stattgefunden hat, bevor die äußere auch nur droht.
Im ersten Teil mit dem Titel „Justine“ wird das Schicksal einer jungen Frau gezeigt, die an ihrem Hochzeitstag, anstatt als Braut aufzublühen, in tiefer Depression dahinwelkt und dabei ihren Job, ihren Mann, ihre Zukunft, ja sich selbst verliert. Sie versinkt in melancholische Schwermut und Trauer, aus der sie nur die nahende kosmische Katastrophe zu entbinden vermag, weil diese genau ihrem inneren Seelenzustand entspricht. Nicht von ungefähr wurden Himmelsgestirne wie etwa der Saturn in der ikonografischen Tradition zu Todesgestalten stilisiert und mit Sichel oder Sense ausgestattet.
Der zweite Teil mit dem Titel „Claire“ ist der Schwester gewidmet, die Justines Hochzeit ausgerichtet hat und die als große Dulderin alles hin und auf sich nimmt. Sie erträgt den offen ausgetragenen Streit der Eltern, die Empfindlichkeiten ihres Ehemannes, sie kümmert sich nach der geplatzten Hochzeit um ihre kranke Schwester und bekämpft ihre eigenen Panikattacken durch äußerste Willensanstrengung, bis auch sie am Ende von Todesangst überwältigt wird.
Am Spiel dieser beiden grandiosen Filmdiven, die Justine (Kirsten Dunst) und Claire (Charlotte Gainsbourg) verkörpern, wird wieder einmal deutlich, dass Lars von Trier in erster Linie Schauspielerregisseur ist. Angesichts der Dramen, die sich auf den Gesichtern dieser beiden Frauen abspielen, wirkt jede vordergründige und scheinbar reale Filmhandlung sekundär. Nicht der Himmel verdüstert sich, sondern das Gesicht von Kirsten Dunst, nicht das Firmament wird finster, sondern der Blick dieser bemerkenswerten Schauspielerin, die man, wenn man sie in Blockbustern wie „Spider-Man“ gesehen hat, kaum mehr wiedererkennt. Nicht von ungefähr wurde Kirsten Dunst, deren Vater Deutscher ist und die vor Kurzem die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen hat, bei den 64. Internationalen Filmfestspielen in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Auch Charlotte Gainsbourg, die bereits in Lars von Triers Film „Antichrist“ (2009) eine der beiden Hauptrollen spielte, ragt in „Melancholia“ durch ihre beeindruckende Emotionalität und ihr expressives Spiel hervor. In ähnlicher Weise hat Lars von Trier auch John Hurt und Charlotte Rampling, die die Eltern der beiden Schwestern verkörpern, zu schauspielerischen Höchstleistungen geführt, genauso wie Kiefer Sutherland, der als Claires Ehemann den treusorgenden Familienvater spielt, bis ihn die Angst vor der finalen Katastrophe in den Selbstmord treibt.
„Melancholia“ ist ein Film, der ganz nach innen und in die Tiefe zielt. Es ist ein philosophischer Film, der angesichts der letzten Dinge die entscheidenden Fragen stellt und schmerzvoll durchexerziert. Wer steht im eigentlichen Sinne für das Leben ein? Derjenige, der das Alleinsein beschwört und am Ende doch Gemeinsamkeit stiftet und für die anderen da ist? Oder derjenige, der sonst beständig für die anderen sorgt, angesichts der nahenden Katastrophe aber den Tod in Einsamkeit sucht?
Berauschend ist an diesem Film neben den Bildern der Kreatürlichkeit, etwa solchen von Pferden, neben den Gefühlslandschaften, die sich auf den Gesichtern abbilden, neben der grandiosen Inszenierung der Natur vor allem eines: die Musik. Wagners Oper „Tristan“ wird dabei zur ostinaten Begleitung einer dem Untergang preisgegebenen Seelenlandschaft, in der nichts als Liebe herrscht, weil diese den Tod mit umfängt.