Das im ehemaligen Romanit-Palast in Bukarest untergebrachte Museum der Kunstsammlungen in der Calea Victoriei 111 wartet derzeit und noch bis zum 18. April mit einer Ausstellung von Werken aus unserer unmittelbaren Gegenwart auf. Die dortige Schau ist ausschließlich einem einzigen Künstler gewidmet, dem 1977 in Miercurea Ciuc geborenen Botond Részegh, der, nach seinem Studium an der Nationalen Universität der Künste Bukarest in der Klasse von Mircia Dumitrescu, als freischaffender Künstler tätig ist und außerdem als Direktor der Új Kriterion Galerie in Miercurea Ciuc wirkt.
Die von Ana Negoiță kuratierte Ausstellung, die vom Bukarester Museum der Kunstsammlungen gemeinsam mit dem Ungarischen Kulturinstitut Bukarest veranstaltet wird, trägt den rätselvollen Titel „Desene dintr-o axă îndepărtată“ (Zeichnungen aus einer fernen Achse) und man kann sich fragen, ob damit die mythische Welt- und Himmelsachse („axis mundi“) gemeint ist, die gegenwärtig aus dem Lot geraten scheint, oder ob die Ausstellungsmacher die Diagnose über den Weltzustand von Seiten Shakespeares Hamlet teilen, der bereits vor vier Jahrhunderten argwöhnte: „Die Zeit ist aus den Fugen.“
Die Kuratorin der Ausstellung, Ana Negoiță, stellt den unmittelbaren Gegenwartsbezug der Werke (Zeichnungen und Gemälde) von Botond Részegh dezidiert ins Zentrum ihrer Konzeption: „Wir haben uns dafür entschieden, die erste Ausstellung in diesem Jahr der zeitgenössischen Kunst zu widmen und dem Publikum Kunst zu präsentieren, die erst vor Kurzem entstanden ist, in der Zeit der Pandemie. Die Auswahl der Arbeiten setzt den Akzent auf den Ausdruck unterschiedlicher Stimmungslagen, die der schaffende Künstler in der Zeit der Pandemie empfunden hat.“
Aus Gründen der Pandemie betritt man die Ausstellung im rechten Gebäudeflügel des Museums der Kunstsammlungen durch den kleinsten der drei Ausstellungssäle, in dem in großzügiger Hängung zwei (der insgesamt neununddreißig) Tuschezeichnungen auf Papier und zwei (der insgesamt sechs) Acrylgemälde auf Leinwand von Botond Részegh zu sehen sind, die allesamt, wie sämtliche Exponate dieser Ausstellung überhaupt, in diesem und im vergangenen Jahr entstanden sind.
Der Blick des Besuchers wird zunächst von den beiden großformatigen Acrylgemälden gefangen genommen: durch deren tiefblau leuchtenden Hintergrund und durch die enorme Dynamik der auf ihnen abgebildeten Körperwesen. Auf jedem der beiden Bilder erkennt man eine mit Wucht kopfüber im freien Fall befindliche Gestalt. Ist es der Engelssturz Luzifers, der Höllensturz Satans, ist es der Sturz vom Olymp in der griechischen Gigantomachie oder der Sturz vom Himmel im antiken Mythos von Ikarus? In den fallenden und stürzenden Wesen, bei denen sich Weiß und Schwarz ins Blau mischen, deuten sich auch Metamorphosen an, Verpuppungszustände, kokonartige Einspinnungen, Stadien der Umgarnung, die Leben einschnüren und Widerstand gegen den freien Fall unmöglich machen. In einem der beiden Acrylgemälde ist der fallenden Gestalt eine aufsteigende beigegeben, als glitte diese wie ein Taucher aus tiefer Bläue empor und schiene so dem Sturz von oben Einhalt gebieten zu wollen. Weiße Acrylspritzer mit gemalten (!) Tropfenspuren, also nicht zufällig entstanden, sondern künstlerisch bewusst inszeniert, definieren in beiden Gemälden die nach unten gerichtete Vertikalität als den dominierenden Vektor des jeweiligen Bildgeschehens.
Neben diesen beiden großen farbigen Gemälden wirken die beiden Tuschezeichnungen dieses Saales, die zudem kleinere Formate aufweisen, geradezu unscheinbar. Es handelt sich um bloße Umrisszeichnungen, anthropomorphe Silhouetten, minimalistische Andeutungen von menschlichen Körpern, gesichtslos, mit abgewinkelten Köpfen, abgeschlossen, in sich verkapselt, die dennoch eine statuarische Dynamik aus sich heraussetzen. In der einen der beiden Zeichnungen scheint es, als wüchse ein gekrümmter Mensch in einen größeren, über ihm stehenden hinein, und in der anderen werden zwei ineinander übergehende Körper von einem auf ihnen lastenden Säulenquader auf den Boden gedrückt oder gar erdrückt.
Der zweite Ausstellungssaal mit vier Tuschezeichnungen und einem Triptychon von Acrylgemälden knüpft an den Gesamteindruck des vorigen Saales an. Zu den Gestalten vor blauem Hintergrund tritt nun ein orangefarbenes Säulen- oder Pfeilerelement hinzu, das im linken Teil des Triptychons als tragendes Element von unten wirkt, im mittleren Teil als eine Art Trichter, aus dem von oben unförmige Wesen heraus und hinab stürzen, und im rechten Teil als ein massiver Block, über dem sich eine weiße Protuberanz wolkenartig ausbreitet, die den Betrachter unwillkürlich an Georg Heyms Gedicht „Der Gott der Stadt“ denken lässt, das mit den beiden Versen anhebt: „Auf einem Häuserblocke sitzt er breit. / Die Winde lagern schwarz um seine Stirn.“
Auch in den vier Tuschezeichnungen des zweiten Ausstellungssaales ist das Element des Säulenquaders vertreten, als oben schwebender, nach unten drückender oder vertikal hängender geometrischer Körper, der mit den anthropomorphen Gestalten jeweils unterschiedlich interagiert. In einer der Zeichnungen öffnet sich das rechteckige Säulenelement gar wie ein Sarkophag oder ein länglicher Karton und scheint die neben ihm stehende menschliche Gestalt gleich-sam einpacken, umhüllen, einschließen, mit ihr eins werden, seine eigene anorganische Struktur auf diese übertragen zu wollen.
Der erste (beim Rundgang der letzte) und größte Ausstellungssaal präsentiert an der Stirnseite ein großformatiges Acrylgemälde, das eine schwarze menschliche Gestalt vor gelbem Hintergrund darstellt, sowie rundum insgesamt dreiunddreißig Tuschezeichnungen, die als Variationen derselben Bildelemente betrachtet werden können, welche der Besucher bereits in den vorigen beiden Sälen kennen gelernt hat. Hier lassen sich die Gefühlszustände, die der Künstler während der Pandemie in der Quarantäne seines Ateliers durchlebte und durchlitt, in der ganzen Fülle ihrer Erscheinungsformen studieren, mitfühlen, nachempfinden. Angst, Anspannung, Isolation, Unbehagen, Gefühle der Bedrohung und des Eingesperrtseins werden so in immer wieder neuen künstlerischen Entwürfen erlebbar.
Ein mit seinem Körper nach unten hängender Pole Dancer, ein an den Kniekehlen von einer Stange herab hängender Turner, zwei kopfüber Gepfählte, ein an einem Quader wie an einem Fleischerhaken Aufgehängter, verkrümmte, kontorsionierte, deformierte Gestalten – sie alle bringen die kaum erträgliche Spannung zum Ausdruck, die auf den einzelnen Individuen in Zeiten kollektiver Bedrohung lastet. Oft entlädt sich diese Spannung auch zwischen den von Botond Részegh gezeichneten Wesen. Getrennte Gestalten vereinigen sich wie siamesische Zwillinge, wachsen ineinander, trennen sich wieder gewaltsam, streben voneinan-der weg, geraten in Kämpfe, symbiotische Zustände, umschlingen sich, verwachsen miteinander, dringen ineinander ein, halten sich den anderen vom Leib, stützen, bedrängen oder erdrücken ihn, wandeln sich selbst gar ins Tierhafte.
Mit minimalistischen zeichnerischen Mitteln gelingt es Botond Részegh, plastische Wucht zu erzeugen, die durch die Vielzahl von darstellerischen Variationen in ihrer Dynamik noch gesteigert wird. Die gegenständliche Kraft seiner Werke, die an die Kunst Francis Bacons gemahnt, macht den Ausstellungsbesuch im Bukarester Museum der Kunstsammlungen, der in dem Maße, wie er an die Pandemie erinnert, diese zugleich vergessen macht, zu einem wirklichen Kunst-Erlebnis.