Lernen, Singen und Lehren

Raika Simone Maier schrieb ein Buch über die siebenbürgische Sängerin Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948)

Was will, was kann Musikwissenschaft? Welche Spuren hinterlässt Musik, sofern es sich nicht um Kompositionen handelt, nach hundert und mehr Jahren überhaupt noch? Die flüchtigste aller Künste, dem Augenblick verhaftet, mit welchen Mitteln kann sie analysiert und erforscht werden? Raika Simone Maier, selbst aktive Konzertsängerin und Gesangspädagogin, hat sich im Rahmen eines interdisziplinären Promotionsprojektes an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg aufs Intensivste mit Lula Mysz-Gmeiner beschäftigt. Ihre Dissertation ‘Lernen, Singen und Lehren’. Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948), Mezzosopranistin und Gesangspädagogin“  liegt nun gedruckt vor.

Die Autorin geht akribisch vor und legt Schicht um Schicht frei, bis das Bild einer komplexen Persönlichkeit entsteht, einer Frau, die als Künstlerin und als eine der ersten Hochschulprofessorinnen in Deutschland damals nicht ins Schema passte und heute schon deshalb Interesse erweckt. Raika Simone Maier recherchiert gründlich und fasst dann zusammen. „Lula Mysz-Gmeiner befand sich durch ihre Tätigkeit automatisch in verschiedenen Spannungsfeldern, indem sie ihren Beruf in den Kontext von alltäglichen und außeralltäglichen Situationen ihres (Privat)-Lebens eingebunden ausübte. Zu diesem Kontext gehörten unter anderem einschneidende Ereignisse und Veränderungen: Lula Mysz-Gmeiner wurde dreimal Mutter, dreimal Großmutter, trug ihre Eltern, zwei ihrer Kinder und zwei ihrer Brüder zu Grabe, wohnte an vier unterschiedlichen Orten (Kronstadt, Wien, Berlin, Schwerin), erlebte zwei Weltkriege und vier unterschiedliche Staatsformen (Kaiserreich, Weimarer Republik, NS-Diktatur, Nachkriegsdeutschland)“ (S. 108-109). Gerade dieser unaufgeregte, nüchterne Ton macht das Buch glaubwürdig, ja überaus wichtig, für die Wissenschaft wie auch für unsere siebenbürgische Allgemeinbildung.

Eine Dissertation ist kein Roman und will sorgfältig gelesen werden. 1351 Fußnoten und ein ausführlicher kritischer Apparat verweisen auf die Quellen des Studiums und nötigen hohen Respekt ab. Trotzdem kann man das Buch auch einfach lesen, um Lula Mysz-Gmeiner kennenzulernen, die Sängerin, die aus Kronstadt/Braşov stammte und die in der großen Welt zu Hause war. Max Reger widmete ihr Lieder, große Konzertagenturen vermittelten die Künstlerin an führende Konzerthäuser Europas. Das Buch ist flüssig geschrieben und bietet Interessantes auf Schritt und Tritt. Es ist reich bebildert und voller Reproduktionen von aussagekräftigen Dokumenten rund um Lula Mysz-Gmeiners Karriere als Sängerin und Gesangslehrerin. Es eröffnet aber auch bewegende Einblicke ins private Dasein.
Sowohl im Vorwort als auch im Schlusskapitel betont die Autorin, dass sie durch ihre Herangehensweise Neuland betritt: ausübende Künstler, Frauen gar, die keine eigenen Werke hinterlassen haben, sind selten Gegenstand der (Musik)Forschung. Ihnen werden in einschlägigen Lexika nur wenige Zeilen gewidmet. Sie schlussfolgert: „Die vorliegende Arbeit hat ... die Bedeutung von Interpretierenden für das Musikleben sowie für die Tradierung von Werken gezeigt und es konnte anhand dessen deutlich werden, dass eine werkzentrierte Musikgeschichtsschreibung ohne Einbeziehung der genannten Aspekte wesentlich zu kurz greift“ (S. 374).

Wie klang nun die Stimme Lula Mysz-Gmeiners? Einige wenige Aufnahmen mit der Mezzosopranistin aus der Frühzeit der Schallplatte sind erhalten. Manche dieser Einspielungen sind heute im Internet verfügbar. Bemerkenswert ist, wie Raika Simone Maier versucht, diese Klangdokumente wissenschaftlich zu analysieren und auch hier Neues anbietet. Das Gehörte, ein Lied von Johannes Brahms, muss einerseits in den zeitspezifischen Kontext gestellt werden und wird andererseits mit einer Aufnahme unserer Tage verglichen. Hier kommt die Musikwissenschaft an ihre Grenzen. Nichts kann den Zauber einer Stimme, lebendig vermittelter Musik, einfangen, und das Ergebnis vergleichender Forschung in diesem Bereich bleibt „immer subjektiv“ (S. 215). Schade? Zum Glück? Die flüchtigste aller Künste widersetzt sich dem Konservieren, und so bleibt uns auch der Charme einer großen Sängerin letztendlich verborgen.

Es liegt ein außerordentlich verdienstvolles Buch vor, das wissenschaftlich kompetent und facettenreich das Leben und Wirken einer Künstlerin in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beleuchtet. Das Buch ist frei von wertenden Urteilen und vorschnellen Schlüssen. Wer es liest, wird sich sein eigenes Bild machen über Lula Mysz-Gmeiner, die von sich selber als Sechzigjährige schrieb: „Ja – was habe ich in diesen langen Jahren erlebt, gehört, gesehen! Was alles schon vorher in meiner geliebten Heimat, in dem siebenbürgisch-sächsischen lieblichen Kronstadt, wo ich doch entdeckt – gefördert – und schon als Sechzehnjährige als Gesangstalent, eine Art Wunderkind, gefeiert worden bin...“ (S. 421). Acht Jahre später war sie in Berlin ausgebombt, bemühte sich nach Kriegsende um eine Stelle am Konservatorium in Schwerin und musste erleben, dass ein Teil ihrer nunmehrigen Studierenden ein Gesuch einreichte, in dem ihre Absetzung gefordert wurde. Ein bitteres Ende. Raika Simone Maiers Buch setzt Lula Mysz-Gmeiner aber ein leuchtendes Denkmal und weist neue Wege in der Musikforschung.


Raika Simone Maier: ‘Lernen, Singen und Lehren’. Lula Mysz-Gmeiner (1876-1948), Mezzosopranistin und Gesangspädagogin“, Bockel Verlag, Neumünster, 2017, ISBN 978-3-95675-015-1