Im Rahmen dieser vierteiligen Serie werden ausgewählte preisgekrönte Aufsätze aus der vom Bildungsministerium veranstalteten nationalen Schüler-Olympiade für „Sprache und Literatur in deutscher Muttersprache” vorgestellt, die diesen April in Oberwischau/Vișeu de Sus stattfand.
Die Aufgabenstellung für die elfte Klasse lautete: Schreibe eine Geschichte zu dem Bild. Finde eine passende Überschrift.
Es ist Mitte Oktober. Erneut! Die rostfarbigen Blätter verlassen wie jedes Jahr ihren Stamm, als ob sie im Flug einen langsamen Walzer tanzen würden, nur von der leisen Melodie des säuselnden Windes begleitet. Ich sitze am Fenster im Wohnzimmer und schlürfe ruhig aus meiner halb gefüllten Kaffeetasse, wie ich es jeden Nachmittag schon seit einer gefühlten Ewigkeit mache. Der Schaukelsessel quietscht. Das tat er schon immer.
Ich kann mich noch genau erinnern, wie er damals mit seinem goldigen Lächeln durch die Tür kam und mir so glücklich zurief: „Hey, Astrid! Schau mal her! Du kannst jetzt den ganzen Tag lang rumschaukeln… Da musst du nicht immer in den Park gehen, die kleinen Kinder schauen dich ja immer blöd an!“ Ich weiß noch, wie er dabei kicherte und mir danach erzählte, wie er den Sessel auf dem Flohmarkt entdeckte und der Türke, also der Händler, ihn ihm zum Tausch für eine Zigarettenpackung gab. Manchmal, wenn ich mal wieder in meinen eigenen Gedanken versinke, komme ich zum Entschluss, dass Matteo das dumme Mädchen aus mir herausholte. Doch das stimmt nicht! Das Mädchen, von dem ich spreche, befand sich letztendlich in mir. Wenn mich jetzt jemand von außen betrachten würde, meine er, ich sei eine gewöhnliche Omi, in ihrem Schaukelsessel rumschwingend, mit ihren weißen Haaren und dem großen Strickpulli. Doch ich … was fühle ich? Ich fühle mich noch nicht alt, jede Kaffeetasse und jeder Nachmittag ist für mich ein Segen und im Inneren fühle ich mich verspielter wie noch nie, wenn ich hier, am Fenster, langsam aber sicher dem Tod entgegenschaukele.
Matteo ist zwar nicht mehr da. Kinder hatten wir auch keine, dazu waren wir schon immer zu kindisch gewesen. Das Laufen klappt für mich nicht mehr so richtig, doch um ehrlich zu sein, reise ich viel mehr als einige junge Leute. Ich meine jetzt nicht, dass ich durch die Fjorde Norwegens wandere oder wie Heidi oder Peter mit seinen Ziegen durch Berge und Täler ziehe. Nein, das meine ich natürlich nicht!
Ich reise in meinen Gedanken! Ich fliege durch unbekannte Orte, vielleicht noch viel schönere und begeisternde Orte als die, die es in der Wirklichkeit gibt. Bücher sind bunt, denn sie sind von Menschen mit bunten Gedanken geschrieben worden.
Einige sind der Meinung, dass die Bücher wie Spiegel sind, dass sie das Leben der anderen oder der Leser widerspiegeln und dass das Lesen deshalb augenöffnend ist. Doch ich denke, Bücher sind eher wie Schatten. Unsere Silhouette wird gewöhnlich kleiner und schmaler im Schatten und genauso ergeht es unserer Seele, wenn es einem Buch begegnet. Wir fühlen uns wieder klein wie Kinder. Wir wirken dann so unschuldig und unwissend, der großen unbekannten Welt ausgeliefert, doch das Beste an der ganzen Sache ist, dass wir doch so tapfer sind und fast keine Ängste haben.
Es war einmal dieses kleine Mädchen… also, eigentlich war es schon ein entzückendes junges Fräulein. Ich meine, es hieß Lena. Lena erinnerte mich sehr an mich, als ich noch jung war. Ich stellte sie mir blond vor, mit kurzen Haaren, ihre Augen waren angeblich auch grün, genau wie meine. Sie lebte in Taucha, einem kleinen Dorf neben Leipzig und begegnete zum ersten Mal der Liebe.
Wenn man sich an die Liebe gewöhnt und sie für selbstverständlich hält, kann diese manchmal flach und – na ja – fast langweilig wirken. Doch das war bei Lena ganz anders! Sie hatte einen besten Freund, Martin. Seitdem sie noch winzige Knirpse waren, spielten sie zusammen und waren wie unzertrennlich… immer im Doppelpack!
Jedoch waren sie siebzehn geworden und Lena konnte plötzlich bei jeder Begegnung mit Martin Schmetterlinge im Bauch fühlen. Dieses komische Gefühl im Magen erschien ihr zunächst fast unerträglich und sie konnte es einfach nicht mehr loswerden. Jede Berührung mit Martin, jeder Faustschlag und jedes Schultertasten verursachte ihr solch eine Freude, doch im Anschluss einen um so größeren Schmerz.
Sie war immer so unbeschwert gewesen, doch plötzlich fiel ihr nicht einmal das Einschlafen mehr leicht. Martin bedeutete ihr unheimlich viel, deshalb war offene Kommunikation keine Wahl für sie; das würde ja alles noch viel schlimmer machen und sie könnte ihn sogar abschrecken und am Ende verlieren. Was sollte sie tun? Sie fühlte sich so überwältigt und sie konnte sogar ihren Tränen keinen weiteren Widerstand mehr leisten.
Lena wurde immer leiser. Schweigen war leicht und die Stille wurde ihr neuer Zufluchtsort. Nur ihr herzhaftes Lachen, wenn sie mit Martin war, war noch echt. Der Rest… war Schauspiel! „Hey, Kumpel!“, „Bruder hier“, „Bruder da“, rief sie ihn immer und verbiss sich dabei die Tränen. Sie biss sich immer sanft auf ihre fruchtigen Lippen, wenn sie ihn so verträumt anschaute und dabei starb jedes Mal ein Teil von ihr, denn sie wusste genau, dass eine Zukunft mit ihm unmöglich wäre.
Lenas Geschichte brachte mich immer zurück… zum Beginn meiner Liebesgeschichte mit Matteo. Wir befanden uns in derselben Lage und ich konnte mich noch glasklar an jede schlaflose Nacht erinnern, die ich mit zig unrealistischen Vorstellungen füllte. Ich weiß noch, wie ich all meinen Mut zusammenriss, um ihm letztendlich durch ein Ratespiel meine Gefühle zu gestehen. Er mochte schon immer Rätsel und Krimis, so ging er auf mein Spiel ungeduldig ein und am Ende zahlte es sich sogar aus… Ich erfuhr, dass er mich auch schon seit einer guten Weile mochte und so begann unsere naive, kindische Romanze, die bis am Ende seiner Tage hielt.
Wenn ich könnte, würde ich Lena zurufen: „Sag es ihm! Dir wird es nicht leidtun! Die Erleichterung, die willst du ja fühlen, oder?“ Doch das wäre ja umsonst. Sie ist letztendlich nur in einem Buch und obwohl sie für mich echter als meine eigene Welt wirkt, können sie ja meine Worte nicht beeinflussen. Genau wie meine jetzige Denkweise meine Vergangenheit nicht beeinflussen kann.
Lena wählte die Stille, das Schweigen, das Verdrängen der Gefühle und der einfache, sichere, risikofreie Martin verstarb mit achtzehn. Er nahm sich das Leben, indem er auf den Gleisen auf den Zug des Todes wartete. Er hinterließ Lena einen Brief, in dem er ihr gestand, dass er sie aus ganzem Herzen liebte und dass für ihn ein Leben ohne sie einfach sinnlos erschien. Außerdem erdrückte ihn die Feigheit und dass er keinen Mut hatte, etwas zu sagen.
Lena war außer sich vor Trauer. Ihr Gewissen gab ihr keine Ruhe. Hätte sie ihm etwas gesagt… wäre sie nur mutiger gewesen… Hätte sie nur… Hätte…. Hätte, hätte, hätte! Es gab so vieles zu bereuen, doch so weniges zum Gutmachen. Alles war verloren! Letztendlich nahm sich auch Lena an einem Nachmittag Mitte Oktober das noch viel zu junge Leben. Sie wurde neben Martin begraben und die zwei Turteltauben verwandelten sich zusammen in Engel… oder auf jeden Fall so etwas Ähnliches!
Mein Leben hätte so ganz anders verlaufen können, dachte ich. Ich dachte früher auch viel zu oft an den Tod. Jung zu sein, heißt nicht, unbeschwert zu sein, sondern die Kraft zu haben, sich selbst zu befreien, wie ich und Matteo es damals taten. Meine Kaffeetasse ist inzwischen leer und das Quietschen meines Schaukelsessels erstickt im Geräusch eines Baggers.
Vielleicht werde ich in dieser Nacht leichter einschlafen und mich in einen wunderschönen Engel verwandeln oder vielleicht habe ich noch viele Reisen vor mir, viele Bücher, die gelesen werden wollten. Ich weiß nicht, was kommen wird, aber eine Sache ist sicher: Der Schaukelsessel wird genau hier im Wohnzimmer bleiben und jedes Mal, wenn er quietscht, wird er an meine verspielte, kindische und freie glückliche Seele erinnern.