Aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, aus Polen und Ungarn, aus Kroatien und Griechenland sowie aus Lettland und Finnland sind in der vorigen Woche Germanistinnen und Germanisten nach Bukarest gekommen, um gemeinsam mit rumänischen Fachkollegen an einer internationalen multidisziplinären Tagung des Departments für Germanische Sprachen und Literaturen der Universität Bukarest teilzunehmen. Das Rahmenthema der Tagung, das Raum für translatologische, linguistische und literaturwissenschaftliche Fragestellungen gab, lautete: „Mit den Augen des Sprechers betrachtet“.
Die mittlerweile dritte internationale Tagung des Departments für Germanische Sprachen und Literaturen wurde am Donnerstag vergangener Woche im Ratssaal der Fakultät für Fremdsprachen der Universität Bukarest mit zwei Plenarvorträgen eröffnet, die just jenes Sprechen in das Zentrum ihrer wissenschaftlichen Betrachtung rückten. Von Seiten der Gäste aus dem europäischen Ausland sprach Susanne Teutsch (Wien), die sich mit den Sprechstücken der österreichischen Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek beschäftigte und dabei insbesondere die Rolle des Chores analysierte. Chorisches Sprechen, das bereits im Theater der Antike verwurzelt sei, komme in den modernen Texten Jelineks vor allem dort zum Einsatz, wo individuelles Sprechen nicht mehr möglich scheine. Eindrücklich waren in Teutschs Vortrag mehrere Filmmitschnitte aus der denkwürdigen Wiener Inszenierung Einar Schleefs von Jelineks „Ein Sportstück“, bei deren Premiere am 23. Januar 1998 es zum berühmten Kniefall des Regisseurs vor dem Burgtheaterdirektor Claus Peymann kam. Von Seiten der Bukarester Gastgeber kam anschließend der Germanist und Übersetzungswissenschaftler Mihai Draganovici zu Wort, der sich in seinem Plenarvortrag mit den sprecherbezogenen Schwierigkeiten im Rahmen des hochkomplexen Vorgangs des Dolmetschens auseinandersetzte, wo sich Hören und Sprechen in angestrebter Simultaneität gleich-sam gegenseitig überlagern.
Nach diesen beiden Plenarvorträgen begann die Tagungsarbeit in zwei literaturwissenschaftlichen sowie in einer linguistischen Sektion. Letztere wurde gänzlich mit Beiträgen Buka-rester Sprachwissenschaftler bestritten. Ileana Maria Ratcu, die als Prodekanin für internationale Beziehungen der Fakultät für Fremdsprachen die Bukarester Tagung mit einem offiziellen Grußwort eingeläutet hatte, eröffnete auch den Reigen der Vorträge in dieser linguistischen Sektion und analysierte siebenbürgische Urkunden aus dem 16. Jahrhundert aus der Perspektive des Schreibers. Ioana Hermine Fierbin]eanu beschäftigte sich mit Anredeformen in deutschen und rumänischen WhatsApp-Interaktionen, während sich Maria Iliescu mit den Ursachen des Wortuntergangs am Beispiel bedrohter Wörter befasste. Sabine Schwager-Ple{u hielt zwei Vorträge: einen zum Thema „Perspektivwechsel durch Debatte“, den anderen zur aktuellen Problematik „kultureller Globalisierung im Fremdsprachenunterricht“. Nicoleta Gabriela Gheorghe untersuchte die Verwendung der Präfixoide „Sau-/sau-“ in der deutschen Gegenwartssprache, etwa in Wörtern wie „Sauwut“ oder „saugrob“, sowie die Problematik ihrer Übersetzbarkeit ins Französische, während sich Ana Dovgan mit Funktionsverbgefügen im Deutschen und Rumänischen auseinandersetzte. Adriana Dănilă schließlich analysierte die negative Bewertung der rumänischen politischen Klasse in Pressetexten der „Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien“ (ADZ).
Die beiden literaturwissenschaftlichen Sektionen der internationalen Bukarester Tagung setzten unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte, wobei sich ein großer Teil der Vorträge mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur befasste. Autoren mit Rumänienbezug kamen in drei Referaten zur Sprache: Christina Rossi (Dortmund) sprach über den Erfahrungsdualismus der literarischen Ästhetik am Beispiel von Herta Müllers Collagenband „Im Heimweh ist ein blauer Saal“; Roxana Ilie (Bukarest) dachte über Gedächtniskunst in Catalin Dorian Florescus Roman „Der kurze Weg nach Hause“ sowie in Richard Wagners Roman „Habseligkeiten“ nach; und Carmen Iliescu (Bukarest) untersuchte Kindheitserinnerungen in Catalin Dorian Florescus Erstlingsroman „Wunderzeit“. Kindlicher Wahrnehmung galt das Augenmerk zweier weiterer Vorträge der Tagung: Alexandra Nicolaescu (Bukarest) beschäftigte sich mit kindlichen Perspektiven auf Geschichte im ersten Roman der Rosa-Kaninchen-Trilogie von Judith Kerr; und Monika Preuss (Dortmund) analysierte kindliche Wahrnehmung und Perspektivenverschränkung in der aktuellen deutschsprachigen transkulturellen Literatur.
Christina Dogaru (Bukarest) sprach über die Neuerfindung von Till Eulenspiegel in Daniel Kehlmanns Roman „Tyll“, und Ana Karlstedt (Bukarest) referierte über das Bukarest-Bild in Jan Koneffkes Roman „Die sieben Leben des Felix Kannmacher“. Roswitha Dickens (Heidelberg) stellte zwei weitere Gegenwartsromane vor, die beide auf einer Insel in der Nord- bzw. Ostsee spielen: „Birk“ von Jaap Robbens und „Kruso“ von Lutz Seiler. Silvan Moosmüller (Basel) reflektierte die Verantwortung des „stillen Beobachters“im Kontext des Romans „Gehen, ging, gegangen“ von Jenny Erpenbeck, der die gegenwärtige Flüchtlingsproblematik in Deutschland zum Gegenstand hat. Maria Irod (Bukarest) analysierte das literarische Erzählverfahren des sog. Sampling, das dem der Collage oder Bricolage ähnelt, am Beispiel des literarischen Werks von Thomas Meinecke. Zwei weitere Vorträge befassten sich mit der zeitgenössischen grafischen Literatur, und zwar am Beispiel des Mauerfalls. Dieter Hermann Schwanitz (Tampere) untersuchte dabei Möglichkeiten und Grenzen comicspezifischer Ausdrucksformen, während Sándor Trippó (Debrecen) das Ineinandergreifen von Bild und Text in diesem Genre analysierte: etwa in dem Comic von Tamás Gáspár „Wie Angela Merkel den Mauerfall verschwitzte“, dessen Titel buchstäblich und zugleich metaphorisch zu verstehen ist, denn Angela Merkel erlebte am 9. November 1989 den historischen Augenblick der Maueröffnung nicht an einem der Grenzübergänge an der Berliner Mauer, sondern in einer Ostberliner Sauna.
Werke von Christa Wolf standen im Mittelpunkt der Vorträge von Juris Kastins (Liepaja) und Nikolaos Ioannis Koskinas (Athen), während zwei weitere Vorträge theoretische Probleme aufwarfen: Gabriel H. Decuble (Bukarest) ging in seinem Vortrag mit dem Titel „Das Auge in der Hand oder Über die Grenzen des taktilen Diskurses“ im Kontext des ubiquitären Primats des Optischen und Visuellen auf das Werk der blinden und gehörlosen Schriftstellerin Helen Keller ein, und Aida Alagic (Zagreb) befasste sich am Beispiel von Peter Weiss’ dreibändigem Roman „Die Ästhetik des Widerstand“ mit der Frage: „Kann man Kunstwerke nacherzählen?“. Der Schreibtisch als „epistemisches Möbel“ war Gegenstand des Vortrags von David Österle (Wien), der anhand von Werken zweier österreichischer Autoren, Werner Kofler und Peter Handke, Schreibtisch-Beobachtungen anstellte und dabei den schönen alpenländischen Satz aus Koflers Prosastück „Am Schreibtisch“ zitierte: „Schreiben ist Bergwandern im Kopf“.
Werke zweier österreichischer Schriftsteller der klassischen Moderne – „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil und „Esch oder die Anarchie“ von Hermann Broch, der mittlere Teil seiner „Schlafwandler“-Trilogie – wurden von zwei Germanisten aus Torun, Alexander Jakoljevic und Tomasz Waszak, untersucht, während sich zwei rumänische Germanistinnen mit Werken rumänischer Autoren befassten: Ioana Crăciun-Fischer (Bukarest) widmete sich in ihrem Vortrag mit dem Titel „Poetisches Radebrechen“ der deutschlandbezogenen Gelegenheitsdichtung des rumänischen Mathematikers und Schriftstellers Ion Barbu, und Cristina Spinei (Iași) beschäftigte sich mit dem Roman „Kinderland“ der moldawischen Autorin Liliana Corobca, der im rumänischen Original den genannten deutschen Titel trägt, welcher allerdings in der deutschen Übertragung von Ernest Wichner durch die Titelformulierung „Der erste Horizont meines Lebens“ ersetzt wurde.
Ein mediävistischer Vortrag von Imre Majorossy (Budapest/Wien) sowie drei Vorträge mit skandinavistischer Thematik der drei Bukarester Literaturwissenschaftlerinnen Petra Antonia Binder, Raluca Boboc und Dariana Plăeșu rundeten die gelungene wissenschaftliche Tagung ab, die insbesondere auch den Diskussionen viel Zeit einräumte und so das internationale germanistische Fachgespräch wie den lebendigen Dialog beförderte, nicht zuletzt auch beim feierlichen Empfang im Gewölbekeller der neogotischen Casa Universitarilor, in der schon Maria Obrenovic, die Geliebte des rumänischen Fürsten Alexandru Ioan Cuza und Mutter des späteren serbischen Königs Milan I., eine sorgenfreie und genussreiche Zeit verbrachte.