Unter der Leitung des deutschen Dirigenten Vincent Grüger fand am vergangenen Samstag in der Bukarester Nationaloper im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Experimentalstudios für Oper und Ballett „Ludovic Spiess“ die Premiere von Claude Debussys „La Boîte à Joujoux“ (Die Spielzeugschachtel) statt.
Das 1913 entstandene Ballett für Kinder jeglichen Alters, das Debussy, wie einige Jahre zuvor auch schon das Klavierwerk „Children’s Corner“ (Kinderecke), für seine Tochter Chouchou geschrieben hatte, ist einerseits für die Augen und Ohren von Kindern geschaffen. Andererseits und darüber hinaus ist es ein musikalisches Werk von rarer Finesse, das, wie auch Debussys Ballett „Jeux“ (Spiele) aus dem Jahre 1912, am Anfang des modernen Bühnentanzes steht und dabei in avantgardistischer Manier mit Motiven und Zitaten (Gounod, Mendelssohn Bartholdy, Spieluhrklänge, indische Musik) operiert und diese im Stile virtuos gehandhabter Leitmotivtechnik miteinander verwebt.
Debussy hat seine Klavierfassung von „Die Spielzeugschachtel“ nicht mehr selbst instrumentieren können. Nach nur sieben Partiturseiten musste er im Jahre 1917 die Arbeit an der Orchestrierung aus Krankheitsgründen abbrechen, die dann sein Freund André Caplet nach Debussys Tod im Jahre 1918 nach dessen Vorlagen vollendete. Hatte Caplet das Debussysche Ballett für großes Orchester instrumentiert, so präsentierte der Dirigent Vincent Grüger, der bei Hans Zender Komposition studiert hat und derzeit rumänische Kammerorchester in Focşani und Brăila leitet, bei der Bukarester Premiere eine eigene, überaus gelungene Instrumentierung des Debussyschen Werkes für ein elfköpfiges Kammerensemble (fünf Streicher, vier Bläser, Schlagzeug und Klavier), die mit großer Sensibilität, klanglicher Vielfalt und musikalischem Humor dem pianistischen Notentext orchestrales Leben einhaucht.
Das Debussysche Ballett in einem Akt und vier Bildern wurde in der Bukarester Premiere musikalisch präludiert durch verschiedene, ebenfalls von Debussy stammende Musikstücke, darunter das berühmte Werk „Syrinx“ für Flöte Solo, das die Flötistin pittoresk hoch oben von der Galerie in das Foyer im ersten Stock der Nationaloper herabtönen ließ, oder auch das letzte Stück „Golliwogg’s cakewalk“ (Golliwoggs Kuchenpromenade) aus dem Klavierwerk „Children’s Corner“.
Währenddessen war, aufmerksam verfolgt von den zahlreichen Kindern, die der Premiere beiwohnten, die Bühnenhandlung bereits in vollem Gange. Der Zeremonienmeister mit rotem Zylinder und Zauberstab befehligte die sieben Zwerge, dargestellt von Kindern der Ballettschule „Educa“, der Soldat wurde von der Ballerina und von der Puppe gleichermaßen angehimmelt, Pulcinella schritt in traditionellem Kostüm mit Zweispitz gewichtig umher, der Sopran sang ein Lied, Harlekin und Pierrot tanzten um die Wette.
Das längliche Foyer, an zwei Seiten gesäumt von tribünenartig erhöhten Zuschauerreihen, wurde so zu einer überdimensionalen Spielzeugschachtel, in der sich, wie in Andersens Märchen vom standhaften Zinnsoldaten, die Spielzeuge plötzlich wie von Zauberhand belebten und ihre eigene Welt der Phantasie schufen. So trat denn auch der Zeremonienmeister auf ein gebannt lauschendes Mädchen zu, fasste es an die Wange und sagte darauf: „Das sind ja Spielzeuge wie wir, nur sind sie weicher!“
Beeindruckend war dann der Auftritt des Orchesters: Plötzlich sprang die Tür auf und der Dirigent, gefolgt von der Flötistin, dem Klarinettisten, dem Hornisten und dem Trompeter, tanzten in den Saal herein und mischten sich, pantomimisch agierend, unter das auf der Bühne herumtollende Spielzeug, bevor sie sich, zunächst handgreiflich gehindert vom Zeremonienmeister, endlich zu den Streichern an ihre Pulte setzen konnten.
Diese gelungene Idee war nur der Auftakt einer Reihe weiterer lustiger Einfälle des Regisseurs Marcel Stanciucu, der auch die Videosequenzen dieser Inszenierung kreiert hatte: So war die gesamte hohe Rückwand der Bühne mit einer Leinwand bespannt, auf der neben animierten Puppen, Flammen, Märchenbuchseiten auch einmal ein Elefant zu sehen war, und groß war die Überraschung, als plötzlich jener Elefant als echtes Plüschtier auf die Bühne purzelte. Dass Debussys Musik minutiös dem Geschehen auf der Bühne folgt, oder umgekehrt, konnte man an dieser Stelle besonders gut hören, sehen und genießen.
Die kurzweilige Bühnenhandlung, aufmerksam beobachtet von den zuschauenden Kindern, die sich dabei mitunter auch auf die Bühne verirrten, nimmt in ihrem weiteren Verlauf verschiedene Wendungen, bis plötzlich ein Unglück für Aufregung sorgt. Jemand hat dem Soldaten mit dem Spielzeugelefanten auf den Kopf geschlagen und nun liegt der stolze Krieger bewusstlos am Boden. Die von ihm zuerst verschmähte Puppe kümmert sich dann aber rührend um ihn, und schließlich finden die Liebenden, ganz wie in Andersens Märchen, doch noch zueinander.
Das lustige Spiel schließt mit einem doppelten Epilog. Der erste spielt Jahrzehnte später: Die gealterten Protagonisten des Balletts aus der Spielzeugschachtel humpeln, gestützt auf Stöcke, schwerfällig herein, bevor sie sich im Jungbrunnen der Phantasie plötzlich wiederbeleben und zu alter Form zurückfinden – vielleicht ein Hinweis des Librettisten André Hellé und des Komponisten Claude Debussy darauf, dass Kindlichsein niemals Kindischsein bedeutet und dass Erwachsene immer darauf Acht haben sollten, sich die kindlichen Quellen ihrer Phantasie nicht zu verschütten.
Nicht von ungefähr haben sich auch andere Komponisten wie Bizet, Fauré, Ravel oder Schumann mit verschiedenen ihrer Werke speziell an Kinder gewandt.
Der zweite Epilog spielte dann in der Gegenwart: Der gelungen orchestrierte Schlussapplaus brachte am Ende noch einmal alle Mitwirkenden auf die schmale und langgestreckte Bühne, die fast einem Laufsteg glich: das Personal der Commedia dell’arte, die Verkörperungen der Spielzeuge, die Sopranistin Marta Cristina Sandu, die nicht nur durch die drei von ihr gesungenen Lieder, sondern auch schauspielerisch überzeugte, den Dirigenten Vincent Grüger, den Regisseur Marcel Stanciucu und die Choreografin Maria Popa.
Diese hatte die schwierige Aufgabe gehabt, nicht „ein Ballett im üblichen Sinne“ zu schaffen, wie dies Debussy in einem Brief aus dem Jahre 1914 ausdrücklich betont hatte, sondern eine Choreografie der Bewegungen. Die Bewegungen des Pierrots und die Posen der Ballerina bildeten dabei die beiden artistischen Gegenpole ihrer choreografischen Realisation.
Es wären diesem Werk, dieser musikalischen Fassung und dieser Inszenierung nicht nur zahlreiche weitere Darbietungen in der laufenden Spielzeit, sondern darüber hinaus die Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit zu wünschen. Kinder (und Erwachsene), die „Die Spielzeugschachtel“ noch nicht gesehen haben, können darauf mit Recht gespannt sein, Kinder (und Erwachsene), die dieses Ballett nun schon gesehen haben, können sich auf weitere Stücke im Rahmen der Veranstaltungsreihe des Experimentalstudios für Oper und Ballett „Ludovic Spiess“ freuen: „Kinderstube“ von Modest Mussorgsky (am 10. März), „Harap Alb“ nach Ion Creangă (am 17. März) und „Ein Sommernachtstraum“ nach William Shakespeare (am 25. März).