Zu Unrecht stehen Musikpädagogen im Schatten der „ausführenden“ Musiker. Lehrernamen sind in den Biografien von Instrumentalisten, Sängern und Komponisten nur kurz erwähnt, sie werden vielleicht flüchtig in einem Interview genannt, und erst dann gewürdigt, wenn einer ihrer Schüler Berühmtheit erlangt. Die Aufmerksamkeit der Musikwelt und des Publikums gilt den Musikschaffenden – und weniger den Menschen, die für die Arbeit hinter den Kulissen zuständig sind. Als Musiklehrer an allgemeinbildenden Schulen steht man noch weniger im Fokus – obwohl man oftmals gerade in dieser Eigenschaft Talente entdeckt, künftige Musiker fördert und ein kultiviertes Musikpublikum heranbildet. Das unlängst im Schiller-Verlag Hermannstadt/Sibiu erschienene Buch „Vom Geistigen in der Musik. Ernst Irtel als Pädagoge und Komponist“ würdigt einen Lehrer und Tondichter, an den sich viele seiner ehemaligen Schüler und Zuhörer mit großer Dankbarkeit erinnern.
Ernst Irtel (1917-2003), ein gebürtiger Mühlbacher, studierte in Klausenburg/Cluj und wirkte als Musiklehrer an den Schulen in Mühlbach/Sebeş, Hermannstadt, Schäßburg/Sighişoara und Mediasch/Mediaş, bevor er 1987 nach Deutschland auswanderte. Seine vielfach geschätzte Vertonung der „Siebenbürgischen Elegie“ von Adolf Meschendörfer für Singstimme und Klavier, bzw. Chor a cappella, weitere Chöre, Lieder, Klaviermusik und Miniaturen für Cello und Klavier stammen aus seiner Feder. Das Buch „Vom Geistigen in der Musik“ ist eine Sammlung von Zeitungsartikeln, die entweder Irtel erwähnen oder von ihm verfasst worden sind. Erschienen sind die Texte in der „Siebenbürgischen Zeitung“, aber auch vereinzelt in der „Woche“ und dem „Neuen Weg“. Irtels Tagebucheinträge runden das Buch ab und gewähren einen persönlicheren Einblick in das Leben und die Gedankenwelt des Musikers. Der Autor, Walter Hutter, ist nicht bei seiner ersten Irtel-Publikation. Der promovierte Mathematiker hat bereits mehrere Artikel sowie die Bände „Ernst Irtel. Aus seinen späten Jahren“ (2007) und „Ernst Irtel - Eine Chronologie“ (2010) veröffentlicht.
Das „Geistige in der Musik“ bezieht sich auf eine ganz bestimmte innere Haltung, eine „künstlerische Regsamkeit“, die laut Walter Hutter das Wirken Irtels kennzeichnete. Außerdem hat Irtel viel „Geistiges in der Musik“ an seine Schüler weitergegeben. Nicht nur, dass er gute Schulchöre in Schäßburg und Mediasch aufgebaut hat; dank seines Unterrichts, der sogenannten „Komponistenstunden“ und der vielen Vorträge sensibilisierte er sein junges Publikum für die klassische Musik im Allgemeinen, ging aber auch ins Detail, analysierte Werke, besprach Biografien und schuf Grundlagen, „deren Wirkung noch viel später im Leben zu Quellen menschlicher Entwicklung wurden“, wie es im Buch heißt. Irtel soll „Räume für innere Prozesse“ geschaffen und „gegenüber Vorprägungen den Rücken frei“ gehalten haben. Seine „geschmacksbildenden“ Vorträge waren aber auch bei älterem Publikum beliebt. Dass die Zuhörer an der musikalischen Kreation beteiligt sind, dass sie mit ihrer Aufmerksamkeit, mit aktivem Zuhören und Mitdenken ein Werk „nacherschaffen“ (11), das haben viele Musikinteressierte von Ernst Irtel gelernt.
Nicht wenige Zeitungsberichte beziehen sich auf Aufführungen der „Siebenbürgischen Elegie“ in Irtels Vertonung und auf Konzerte, an denen er als Komponist, Dirigent oder Interpret mitwirkte. Viel Lob erntet in der Presse beispielsweise der Madrigalchor Samuel von Brukenthal „Cantores cibinensis“ unter Kurt Martin Scheiner für seine Irtel-Aufführungen. So geben die feinfühligen Kritiken u. a. von Karl Teutsch, Hans Bergel und Hannes Schuster einen Überblick auch über das rege – größtenteils auf Ehrenamt engagierter Musikfreunde basierende – Kulturleben der Siebenbürger Sachsen in Deutschland. Besonders lesenswert ist die Aufsatzreihe zu Carl Filtsch, die Irtel 1991 in der „Siebenbürgischen Zeitung“ veröffentlicht hat und in der er das Wunderkind auf dessen Konzertreisen begleitet, seine Begegnungen mit Clara Wieck (spätere Schumann), Franz Liszt, Constanze Mozart und Anton Rubinstein, die Zeit als Lieblingsschüler Chopins beschreibt. Irtel, der später auch das Buch „Der junge siebenbürgische Musiker Carl Filtsch (1830-1845). Ein Lebensbild“ (1993) publiziert hat, war zeitlebens damit beschäftigt, über den genialen, allzu früh verstorbenen Mühlbacher Pianisten zu forschen und ihn (erneut) ins Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit zu bringen.
Aus nächster Nähe lernt man aber Ernst Irtel kennen, wenn man seine Tagebucheinträge liest. Zum Beispiel erinnert sich der Musiker an das „einschneidende“ Erlebnis, als siebenjähriges Kind zum ersten Mal Radio gehört zu haben. Einmal habe er so „bärbeißig“ auf dem Klavier geübt, dass er „jähzornig Taste und Hämmerchen fis“ zerschlug: „Als sieben- bis achtjähriger Bub hatte mich in Schüben, Anwandlungen eine unbändige Musizierlust überkommen, und ich veranstaltete auf den blanken Tasten unseres Rösler-Flügels und mit meinen zwei Kinderhänden wüste Klangorgien, Malträtierungen des so sensiblen Instruments“, so der Musiker (138). Doch auch ernstere Dinge, wie den Kompositionsprozess der Miniaturen für Cello und Klavier, kann der Leser anhand von Tagebuchnotizen mitverfolgen. Spannend wäre es zu wissen, ob Irtel schon in Rumänien, vor seiner Auswanderung, Tagebuch geführt hat. Schikanen von politischer Seite werden im Buch nur kurz angedeutet, lassen aber erahnen, dass dies nur die Spitze des Eisbergs ist. Jedenfalls hatte Irtel ein Geheimrezept, das ihm stets Kraft gab: „Andere reisen in der Welt herum, ich versuche die menschliche Seelen-Landschaft zu ergründen. Die Musik ist da mein großer Helfer“ (172).
Walter Hutter: „Vom Geistigen in der Musik. Ernst Irtel als Pädagoge und Komponist“, Schiller-Verlag Hermannstadt/Sibiu, 2017, 181 Seiten, 59 Lei (14,20 Euro), ISBN 9-783-944529-95-0