Der jüngste Spielfilm des 41-jährigen rumänischen Regisseurs Radu Jude, der vor allem durch seinen Historienstreifen „Aferim!“ (2015) internationale Bekanntheit erlangt hat, kam jüngst in die rumänischen Kinos, nachdem er im vergangenen Juli beim Internationalen Filmfestival Karlovy Vary (KVIFF) seine Weltpremiere erlebt hatte und dort auch gleich mit zwei Auszeichnungen bedacht worden war: mit dem Kristallglobus für den besten Spielfilm und mit dem Europa-Cinemas-Label-Preis für den besten europäischen Film.
Radu Judes Film trägt den langen Titel „Îmi este indiferent dac˛ în istorie vom intra ca barbari” (Es ist mir gleichgültig, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen). Dieser Titel ist ein historisches Zitat des rumänischen Marschalls und Staatsführers Ion Antonescu, unter dessen Regierung es während des Zweiten Weltkrieges zu massenhaften Deportationen, ethnischen Säuberungen und Massakern an Juden und Roma kam.
Genau jener dunklen und oft verschwiegenen Seite der rumänischen Geschichte widmet sich dieser Film, bei dem Radu Jude nicht nur Regie führte, sondern auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnete. Gegenüber dem Karlsbader Festivalfernsehen äußerte sich Radu Jude über die rumänische Negierung und Tabuisierung des Holocaust sowie des Porajmos folgender-maßen: „Ich beschäftige mich mit der Geschichte, um eine Verbindung zur Gegenwart zu finden. Mein Film befasst sich mit dem Mangel an Erinnerungen an diese Ereignisse in der gegenwärtigen rumänischen Gesellschaft. Außerdem soll er Möglichkeiten aufzeigen, die ethnischen Säuberungen der rumänischen Armee aus der heutigen Sicht zu beschreiben. Ich glaube nicht daran, dass sich Geschichte wiederholt. Aber auch in der Gegenwart sehen wir, dass es Rassismus und Antisemitismus sowie die Leugnung von Völkermorden gibt. Darum ist eine Geschichte aus der damaligen Zeit für uns von Bedeutung. Und gerade deshalb verbinde ich die Gegenwart mit der Vergangenheit.“
Ästhetisch stellt sich Radu Jude mit seinem Film in die Tradition eines Bertolt Brecht und eines Jean-Luc Godard. Zahlreiche Brechtsche Verfremdungseffekte begleiten vor allem die erste Hälfte des mit 140 Minuten überlangen Films, und wie Godard durchbricht Jude oftmals die Filmrealität, indem er das Aufnahmemedium selbst thematisiert und die Schauspieler immer wieder (teils mit humoristischer und komödiantischer Wirkung) aus ihrer Rolle fallen lässt. Bereits die Idee, ein sog. Reenactment, also die authentische Nachstellung, Wiederaufführung bzw. Neuinszenierung eines historischen Ereignisses, als Straßentheater mit filmischen Mitteln zu dokumentieren, birgt als solche das Aufeinandertreffen mehrerer historischer Ebenen wie auch zahlreicher verschiedener Perspektiven, die der Vielfalt von Formen der Vergangenheitsbewältigung im gegenwärtigen Rumänien auch ästhetisch Rechnung trägt.
Im Zentrum der Handlung steht die Regisseurin des Straßentheaters Mariana Marin, meisterhaft verkörpert von der Temeswarer Schauspielerin Ioana Iacob, die dem rumänischen Publikum vor allem aus Radu Gabreas Verfilmungen zweier Romane von Eginald Schlattner, „Der geköpfte Hahn“ und „Rote Handschuhe“, dem deutschsprachigen aber aus zahlreichen Aufführungen des Deutschen Staatstheaters Temeswar bekannt ist. In Radu Judes Film wird sie als engagierte Intellektuelle gezeichnet, die mit ihrem von der Stadt Bukarest geförderten Straßentheaterprojekt die rumänische Bevölkerung aufrütteln und auf die blinden Flecken in ihrer Geschichtskenntnis aufmerksam machen will. Auf Schritt und Tritt zitiert sie Hannah Arendt, Raul Hilberg und andere Historiker und Philosophen, die sich mit Faschismus und Totalitarismus, Holocaust und Judenvernichtung, kurz mit der Banalität des Bösen beschäftigt haben. In kontroversen Diskussionen mit dem Produzenten Movilă (hervorragend gespielt von Alexandru Dabija) lässt sie ihre geballte Eloquenz und intellektuelle Brillanz aufblitzen, vor allem auch ihre Beherrschung der deutschen Sprache und Geschichte, weswegen der auf Entschärfung und Abmilderung bedachte Produzent, der auch die Interessen der rumänischen Bürgermeisterin vertritt, der Regisseurin mit polemischer Absicht ein Buch über das Massaker der deutschen Kolonialmacht an den Herero in Deutsch-Südwestafrika überreicht.
Dass der Betrachter des Films nebenbei auch noch ausführlich über die Affäre Marianas mit einem von Șerban Pavlu verkörperten verheirateten Piloten ins Bild gesetzt wird und dass Ioana Iacob außerdem immer wieder nackt in ihrer Badewanne zu liegen kommt, entspricht zwar dem unter anderen auch von Rainer Werner Fassbinder praktizierten Prinzip, den Regisseur gerade auch als Menschen in die Handlung mit einzubeziehen, macht Radu Judes Film dadurch aber nur länger, nicht besser, zumal der eigentliche Regisseur Radu Jude allein über das Alter Ego der Straßentheaterregisseurin fassbar wird, sich selbst und als solcher aber dem Betrachter entzieht.
Thema des Straßentheater-Reenactment-Projekts ist das Massaker, das im Oktober 1941 von rumänischen Soldaten an den Juden von Odessa verübt wurde, als Vergeltungsaktion für den Bombenangriff sowjetischer Partisanen auf das rumänische Hauptquartier, bei dem zahlreiche rumänische Offiziere zu Tode kamen. Der erste Teil des Films zeigt die Vorbereitungen der vornehmlich aus Laien sich zusammensetzenden Straßentheatertruppe, die insgesamt vier Personengruppen zu verkörpern hat: Wehrmacht und SS, Rote Armee, rumänische Truppen, Juden aus Odessa. Bereits während dieser Vorbereitungen (Einkleidung der Statisten, Einstudierung der Kampfszenen etc.) prallen unterschiedliche Meinungen zur rumänischen Beteiligung am Holocaust unversöhnlich aufeinander. Immer wieder muss sich die Regisseurin gegen Geschichtsklitterung und antisemitische Tiraden zur Wehr setzen. Und der Produzent droht ihr mit dem Abbruch des Projekts, wenn sie den Holocaust tatsächlich auf der Bühne der Straße zur Darstellung bringen will.
Der zweite Teil des Films zeigt dann die nächtliche Aufführung des Straßentheater-Reenactments auf dem Bukarester George-Enescu-Platz, vor der beleuchteten Fassade des ehemaligen Königspalastes, auf die wechselweise Nazi-Embleme, sowjetkommunistische Hämmer und Sicheln sowie die rumänische Nationalflagge projiziert werden, die, unterstützt von historischen Ton- und Bilddokumenten, das Theatergeschehen begleiten und kommentieren. Und die aufpeitschende Rede eines orthodoxen Priesters, der antisemitische Zitate von Mihai Eminescu und Ioan Slavici zustimmend und mit dem Segen der Kirche von sich gibt, heizt die Stimmung auf dem Platz im Zentrum Bukarests zusätzlich an.
Entgegen der Absprache mit dem Produzenten zeigt die Regisseurin dann am Ende doch noch den Holocaust, indem sie eine Baracke, in die zuvor mit Judensternen kenntlich gemachte Statisten getrieben werden, in Flammen aufgehen lässt. Doch das Happening verfehlt seine Wirkung. Die Zuschauer des Straßentheater-Reenactments skandieren antisemitische Parolen und bejubeln den Feuertod der Juden von Odessa 77 Jahre danach ein weiteres Mal. Angesichts dieser ungeplanten und authentischen Zuschauerreaktion bleibt der Regisseurin am Ende der Aufführung nur noch Schweigen und Kopfschütteln, den betroffenen Betrachtern des provozierenden Films jedoch die Möglichkeit zu historischem Eingedenken!