Im Stuttgarter Kunstmuseum am Kleinen Schlossplatz sind derzeit Werke des isländischen Performancekünstlers Ragnar Kjartansson zu sehen. Der 1976 in Reykjavik in eine Theaterfamilie hineingeborene Kjartansson lässt in seinen Performances, Videoinstallationen, Gemälden, Zeichnungen, Skizzenbüchern und Plastiken die Grenzen zwischen bildender Kunst, Literatur, Musik und darstellender Kunst verschwimmen und in seinen originellen wie kreativen Arbeiten inein-ander fließen. Kjartansson, der in Reykjavik und Stockholm Malerei studierte, wurde bereits weltweit mit zahlreichen Ausstellungen seiner Werke in namhaften Museen und Galerien gewürdigt, u. a. im Metropolitan Museum of Art in New York (2019), in Peking (2018), in Reykjavik (2017), im Barbican Centre in London (2016/2017), in Paris und in Zürich. Im Jahr 2009 vertrat Ragnar Kjartansson auf der 53. Biennale von Venedig seine Heimat Island.
Für die Stuttgarter Ausstellung schuf der isländische Künstler eigens eine Live-Performance mit dem Titel „Tod einer Dame“ (2019), die von zwei Stockwerken der über drei Etagen verteilten Werkschau aus zu betrachten ist. In einem ansonsten leeren Ausstellungsraum liegt, ausgestreckt auf dem Parkettboden, eine Dame im weißen Kleid auf dem Rücken, das rechte Bein ist angewinkelt, der offene Pelzmantel umgrenzt die liegende Gestalt nach der einen Seite hin, Stöckelschuhe nach der anderen Seite. Kunstblut auf dem engelhaften Gewand deutet auf eine Seitenwunde in der rechten Körpermitte, und beständig von oben herab rieselnder Kunstschnee umrahmt die gesamte Erscheinung im Stil einer Aura oder Mandorla. Der Besucher der Ausstellung kann die Performance (mit wechselnden Darstellerin-nen) entweder aus nächster Nähe betrachten oder auch aus der Perspektive einer erhöhten Innengalerie, von der aus man dem Kunstschnee, der auf die dort drunten hin gebreitete Dame hinab rieselt, verträumt nachblicken kann. In dieser oberen Etage ist auch eine Zeichnung mit demselben Titel ausgestellt, die jene Performance „Tod einer Dame“ exakt in den Räumlichkeiten des Stuttgarter Kunstmuseums verortet.
Gleich im Eingangsraum der Stuttgarter Kjartansson-Ausstellung wird man mit dem Humor des isländischen Performancekünstlers, der einen Grundzug seines gesamten Śuvres bildet, konfrontiert. Man sieht hier auf vier Bildschirmen vier einander bis ins Detail gleichende Szenen, die im Abstand von jeweils fünf Jahren – 2000, 2005, 2010 und 2015 – aufgenommen wurden. Der Künstler wird dort neben seiner Mutter, einer bekannten isländischen Theaterschauspielerin, in deren Wohnzimmer stehend gezeigt, beide frontal auf den Betrachter blickend. Dann wendet sich die Mutter plötzlich nach rechts zu ihrem Sohn hin und beginnt ihn anzuspucken. Was zunächst wie ein Schock wirkt, wandelt sich in dieser Performance, unterstützt durch ihre vierfache Vielfalt, zu einer Szene der Zuneigung, ja der Hingabe. Das Spucken changiert ins Anprusten, Pusten ins Schnauben, göttlicher Anhauch und tierhafter Schutzgestus mischen sich ineinander, und die ernsten Mienen der beiden Akteure, ihr ungerührtes Vollführen und Erleiden des Performance-Vorgangs lassen einen Humor erspüren, den der Betrachter etwa aus Filmen von Aki Kaurismäki her kennt. Der Titel der Ausstellung „Scheize – Liebe – Sehnsucht“, der von einer gleichnamigen Zeichnung mit Filzstift auf Papier herrührt, die ebenfalls in der Stuttgarter Ausstellung zu sehen ist, passt also ganz gut auch auf die Videoinstallation „Me and My Mother“, die in permanenten Wiederholungen fortwährend dargeboten wird.
Bei der Trias im Ausstellungstitel handelt es sich um deutsche Lieblingswörter des isländischen Künstlers, wie er auf besagter Zeichnung „Scheize – Liebe – Sehnsucht“ aus dem Jahre 2015 selbst vermerkte. Die drei Substantive verkörpern gleichsam wesentliche Merkmale des Kjartanssonschen Śuvres. Das orthografisch falsch wiedergegebene Wort „Scheize“, das im alltäglichen Sprachgebrauch weniger als Substantiv denn als sekundäre Interjektion fungiert, deutet auf den provozierenden, schockierenden und agitierenden Aspekt seines Werkes, das Wort Liebe auf dessen versöhnlichen Grundzug, und das die romantische Tradition beerbende Substantiv „Sehnsucht“, welches die christliche Hoffnung aus der paulinischen Trias des ersten Korintherbriefes (13,13) ersetzt, evoziert die charakteristische Mischung aus Weltschmerz und Melancholie, die zahlreiche Werke Kjartanssons atmen: so etwa die Videoinstallation „God“ (2007), wo der Künstler wie ein Gesangsentertainer im schwarzen Smoking vor pinkfarbenen Satinvorhängen, begleitet von einem Varietétanzorchester, immer-fort in endlosen Wiederholungen denselben Satz singt „sorrow conquers happiness“ (Kummer überwindet Glück), in ironischer Umkehrung der biblischen Formulierung aus dem ersten Korintherbrief (13, 7).
Die deutsche Sprache spielt, neben der englischen, eine wesentliche Rolle in Kjartanssons Werk, vor allem in seinen Zeichnungen, wo Schriftzüge immer wieder auf deutsche Kultur und Literatur – etwa auf „Die Leiden des jungen Werthers“ – anspielen. In isländischen Schulen lernt man als zweite Fremdsprache wahlweise Deutsch oder Dänisch, und Kjartansson, der Deutsch als Schulfach hatte, verbrachte während seiner Kindheit auch eine kurze Zeit in Lübeck.
Beeindruckend in der Stuttgarter Ausstellung ist die Neun-Kanal-Videoinstallation „The Visitors“, die in ihrem Titel auf den gleichnamigen Song der schwedischen Popband ABBA anspielt und die als Refrain beständig einen isländischen Gedichtvers wiederholt: „Once again I fall into my feminine ways“ (Und wieder verfalle ich in meine feminine Art). Kjartansson hatte im Jahr 2012 Freundinnen und Freunde aus der Reykjaviker Musikszene in eine alte glanzvolle Villa im Staate New York eingeladen, wo die einzelnen Musikerinnen und Musiker in verschiedenen Zimmern oder auf dem von Säulen getragenen Balkon der Villa für etwas mehr als eine Stunde ein und denselben Song interpretierten. Das Ergebnis dieses künstlerischen Happenings wurde von Kjartansson dann synchronisiert und zu einer harmonischen filmischen und musikalischen Gesamtschau zusammengefügt, die der Besucher beim Durchmessen eines einzigen weitläufigen Ausstellungsraumes ambulatorisch oder statuarisch erleben und genießen kann.
Erwähnenswert ist noch die Ölgemäldeserie „Eld-hraun“ (2019), die ein bei einem Vulkansausbruch im 18. Jahrhundert entstandenes Lavafeld im südlichen Island in immer neuen Ansichten wiedergibt, im Stil impressionistischer Freilichtmalerei, diese dabei zugleich jedoch ironisch brechend. Die Überreste einer Theaterloge, die wie die Schollen in Caspar David Friedrichs „Eismeer“ auf-einander geschichtet sind, sind eine Leihgabe der Nationalgalerie von Island. Es handelt sich dabei nicht um irgendeine Theaterloge, sondern um die Führerloge im Berliner Admiralspalast, die Adolf Hitler Anfang der 40er Jahre dort einbauen ließ. Als diese Loge bei der Grundsanierung der traditionsreichen Vergnügungsstätte an der Berliner Friedrichstraße Anfang dieses Jahrtausends abgerissen wurde, wandte sich Kjartansson an die isländische Investorengruppe, die für die Umbaumaßnahmen verantwortlich war, und machte aus den Relikten jener Führerloge das Kunstwerk „Hitler’s Loge“ (2006), das ständig in Reykjavik, derzeit in Stuttgart und künftig wohl auch in anderen Kunsttempeln der Welt zu sehen ist und zu betrachten sein wird.