„Die großzügige und angesehene Edeldame Barbara Varsadi, seine geliebte Ehefrau, starb am 30. März des Jahres 1608 in Christus. Der edle Hausherr Casparus Zeki sorgte dafür, dass dieses Denkmal für den Tod seiner Frau errichtet wurde.“ Dies ist in lateinischen Lettern auf einer Grabplatte am Friedhof der reformierten Kirchengemeinde im 400-Einwohner-Dorf Peder eingraviert, noch in der Niederen Tatra dicht vor der Staatsgrenze der Slowakei zu ihrem Nachbarland Ungarn. Laut Wikipedia waren 2011 drei Viertel der Ortsbewohner Magyaren, wovon 255 sich zur römisch-katholischen und 80 zur reformierten Kirche bekannten. Das Gotteshaus der Letztgenannten stammt aus dem 13. Jahrhundert und dürfte dem recht kleinen Ort durch die mit roten Punkten markierte Landkarte der Dokumentations-Ausstellung „Ideje az építésnek“ (Es ist Zeit, zu bauen) und der László-Teleki-Stiftung zu größerer Bekanntheit verholfen haben.
So zumindest in Hunedoara, Alba Iulia/Karlsburg, Racu und Vlăhița (Kreis Harghita), Miercurea Ciuc, Odorhellen/Odorheiu Secuiesc, Neumarkt/Târgu Mureș, Klausenburg/Cluj-Napoca, Großwardein/Oradea und Sathmar/Satu Mare – Städte und Kommunen mit ungarischer Minderheit –, wohin diese Schautafeln, Guckkästen, zwei Puzzles und weitere Exponate zum Anfassen seit Mai 2019 als Wanderausstellung getourt sind. Und nicht nur die Widmung eines Witwers, sondern auch die Verse 25 und 26 des 19. Kapitels von Prophet Hiob gibt sie lateinisch wieder, die Kopie der über 400 Jahre alten Grabplatte vom kleinen Grenzort Peder: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt und sich als Letzter über dem Staub erheben wird. Nachdem meine Haut noch so zerschlagen ist, werde ich doch ohne mein Fleisch Gott sehen.“
Hatte Grabplatten-Stifter Gaspar Zeki als Christ der reformierten Kirchengemeinde im heute administrativ slowakischen, ethnisch aber noch immer überwiegend magyarischen Dorf Peder geahnt, dass der große Traum von Ungarn Jahrhunderte später zu einem Trauma mutieren könnte? Auf Hiobs „zerschlagene Haut“ kann wohl kein europäisches Land eine noch wehleidigere Litanei als Ungarn anstimmen. Die Aufstellung aller in Budapest beklagten Verluste läppert sich ganz ordentlich zusammen: Transkarpatien, Niedere und Hohe Tatra, slowakisches Donautiefland, Slawonien, Vojvodina, Banat, Kreischgebiet und Siebenbürgen. Nicht mehr alleiniger Gesetzgeber im Karpatenbecken zu sein, tut ihm weh, dem früher einmal ganz breiten Ungarn. Aber Brüche herrlicher Historien lassen sich einfach nicht mehr rückgängig machen, so erbittert man auch an der Geschichte zu drehen versuchen mag. Bauen außerhalb der eigenen Staatsgrenzen jedoch ist gestattet, solange das Konstrukt der Europäischen Union keinen Schaden nimmt.
Starke Zahlen, große Namen
Mehr als 450 historische Baudenkmäler und Kultstätten außerhalb seines eigenen Staatsterritoriums hat das moderne Ungarn seit 1999 erforschen, dokumentieren und restaurieren lassen. Bestimmt nicht zum kulturellen Nachteil der EU und für 1,9 Milliarden Forint, was etwa 4,7 Millionen Euro bedeutet. Die László-Teleki-Stiftung, ohne deren Zutun seither keine steinerne Inschrift, kein Dachstuhl und kein Fresko im Karpatenbecken – damit gemeint bekanntlich auch nicht-ungarische Territorien – vom Erhalten vor dem Verfall oder gar einer vollständigen Restaurierung profitiert hätte, war bereits 1991 durch Regierungsbeschluss in Budapest gegründet worden. Allein in den Jahren 2016, 2017 und 2018 investierte das Kabinett unter Ministerpräsident Viktor Orbán 700 Millionen Forint in das 2015 festgelegte Rómer-Flóris-Programm der Teleki-Stiftung. Lässt man den extrem EU-kritischen Härtekurs des Chefs der Regierung Ungarns außen vor, kann sich das Ergebnis der bis einschließlich 2018 verbuchten Restaurationen an vielen historischen Immobilien magyarischen Ursprungs in Transkarpatien, der Niederen Tatra, dem slowakischen Donautiefland, in Slawonien, der Wojwodina, im Banat, im Kreischgebiet und Siebenbürgen ohne Misstrauen sehen lassen.
Unlängst im August hat die Ausstellung „Ideje az építésnek“ auch in Hermannstadt/Sibiu Halt gemacht. Ein noch glücklicheres Lokal als das Parterre des Brukenthalmuseums für Zeitgenössische Kunst hätten der Gábor-Bethlen-Fonds und die transnationale Nonprofit-Organisation „Magyarsag Háza“ (Ungarisches Haus), das Rómer-Flóris-Programm, die Teleki-Stiftung und die Präsidentschaft des Ungarischen Ministerrats in der größten Stadt des südwestlichen Siebenbürgen für ihr dokumentarisches Schaulaufen griechisch-katholischer, franziskanischer, evangelischer, unitarischer und reformierter Kulturgüter wohl kaum finden können. Alexandru Chituță, Referent des Museums für Bildung, Vertrieb, Sekretariat und Öffentlichkeitsarbeit, warf sich zur Vernissage in ein knallig-oranges Sakko und räumte der Ausstellung „einen Imperativ“ ein. Für die bis zu 20 Jahre zurückliegende Generalrestaurierung der reformierten Kirche von Șișterea (ungarisch: Siter) haben damals auch der Kreisrat Bihor und Rumäniens Kulturministerium gern ihre Kassen geöffnet. Das zur Tat aufrufende Plakat „E timpul să construim“ rührte eben auch am Ausstellungsort Sibiu nicht von ganz ungefähr.
Das Material der Expo „Ideje az építésnek“ war durch Vermittlung von Levente Serfözö an das Brukenthalmuseum geschickt worden. Noch Mitte November 2021 hatte der Vorsitzende des Vereins und Kulturzentrums „HÍD“ der Ungarn in Hermannstadt in der Astra-Bibliothek die Buchvorstellung der rumänischen Übersetzung der „Erdély történet“ von Miklós Bánffy (1873-1950) eröffnet. „Es ist nicht möglich, zu übersetzen. Man kann nur schreiben“, wovon Marius Tabacu (1952-2020), Autor der meisterhaften Übertragung der „Siebenbürgischen Trilogie“ in das Rumänische (Tracus Arte Verlag), überzeugt war. Auch Levente Serfözö weiß, was Leser an der „Trilogia transilvan˛“ haben, und weist freundlich darauf hin, dass die darin geschilderten Probleme „sozialer“ statt „ethnischer“ Art wären. Wer die 1200 Seiten liest, wird ihm wie auch Kritikerin Marta Petreu aus Klausenburg tatsächlich Recht geben: keine Spur von Xenophobie.
Politisch denkbar heikel
Es würde auch ihn „enorm“ freuen, wenn die Beziehung Ungarns und Rumäniens zueinander „noch enger“ wäre und „selbstverständlich ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis“ herrsche, bemerkte Levente Serfözö Anfang April 2022 für die Hermannstädter Online-Zeitung „Turnul Sfatului“ kurz nach der Wiederwahl der Partei von Viktor Orbán zur stärksten Kraft im Ungarischen Parlament. Der nämlich nutze schon seit über zwölf Jahren „extrem simple, starke und gut konstruierte Nachrichten“. „Interessant ist einschließlich der Fakt, dass er kein einziges Regierungsprogramm vorgestellt, sondern bloß gesagt hat, dass ´wir nach vorne und nicht nach hinten gehen!´ – als Nachricht simpel, allgemein verständlich und explizit“, so die Stellungnahme von Levente Serfözö, dessen Meinung nach die Oppositionskoalition zu Orbán sich „einen politisch inkompetenten Leader“ vor den Karren gespannt habe. „Für uns Ungarn außerhalb der Staatsgrenzen war es in Siebenbürgen recht offenkundig, wem wir unsere Stimme geben würden, weil die letzten zwölf Jahre Ungarn und seiner Diaspora unzählige Veränderungen zum Guten hin (...) gebracht haben. Wie es der Slogan auch sagte: gehen wir nach vorne!“
Eine Perspektive, die das Image von Viktor Orbán als Quertreiber der EU nicht groß aufbessern kann. Doch um den Vorsitzenden des Vereins und Kulturzentrums „HÍD“ der Ungarn in Hermannstadt tiefer zu verstehen, lohnt ein Nachlesen in der 1940 kurz vor dem Zweiten Wiener Schiedsspruch von Miklós Bánffy fertiggestellten „Siebenbürgischen Trilogie“: „Ihm ging es durch den Kopf, dass es besser wäre, irgendwo hinzugehören, statt in der gleichmütigen Sachlichkeit zu verharren, auf die er in den ersten Monaten seiner Abgeordnetenzeit so viel gehalten hatte.“, lässt der Diplomat seine autobiografisch inspirierte Hauptfigur im ersten Band der „Erdély történet“ erkennen.
„Besser, sich einen Anführer zu wählen und ihm über Stock und Stein zu folgen, statt sich ständig das Hirn zu zermartern und in jedem Kreis fremd zu sein. Die Sonderstellung (…) war für einen Anfänger sinn- und nutzlos. Gleichgültig, zu welcher Farbe sich die Deputierten bekannten, mit denen er zu diskutieren versuchte, sie stellten ihm doch stets nur die offiziellen Verlautbarungen ihrer Partei entgegen, die in ihrer Zeitung schon hundertmal abgedruckte Argumentation.“, erlebte Miklós Bánffy alias Bálint Abády bald nach Anbruch des 20. Jahrhunderts und noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
„Denn wer nach Billigkeit strebt und auch den Standpunkt der Gegenseite zu verstehen sucht, gilt als ein im politischen Kampf unbrauchbarer Mann; allein die Tatsache schon, dass er auch die Berechtigung der Gegenargumente erwägt, macht ihn verdächtig. Das ´Audiatur et altera pars´ ist kein politischer Wahlspruch. Jedermann soll an die ausschließliche Wahrheit seiner Partei glauben und den Standpunkt der Gegenseite ganz und gar falsch finden. Dies ist ein parlamentarisches Prinzip, das sich manchmal – selten – (...) aufheben lässt, aber die Grundlage jeder öffentlichen Tätigkeit bildet.“
Tausend Seiten später hat Romanheld Bálint sich „unter Aufgabe seiner Sonderposition“ entschieden, Mitglied der Regierungspartei zu werden. „Abády hatte den Schritt schon lange erwogen. Für seine genossenschaftliche Arbeit bedeutete es eine wesentliche Erleichterung, dass er nicht mehr umständlich um Audienzen nachzusuchen brauchte; stattdessen ließ sich der Minister, mit dem er zu tun hatte, jeden Tag im Club der Partei finden. Es waren ohnehin nicht grundsätzliche Überlegungen, die ihn bisher vom Eintritt ferngehalten hatten. Bestimmend war seine Abneigung gegen jeden geistigen Zwang,“ (aha!) „die er aber nun überwand.“
Verkappte Binnenkritik
Wer sich dem letzten Satz der Passage nicht versperrt, kann, was Ungarn wie Levente Serfözö vorgeben, auch unter anderem Licht sehen. Und das wiederum muss einen ja noch lange nicht zwingen, die Politik von Autokraten wie Viktor Orbán zu bewundern. Auch Bálint Abády war sich bewusst, für seine Beteiligung misstrauisch beobachtet werden zu können. Draußen-Bleiben ist letztlich doch nur was für ganz Wenige. Beispielsweise für Restaurator Lóránd Kiss aus Târgu Mureș, der an Fresken etlicher Kirchen, die in der Expo „Ideje az építésnek“ abgebildet sind, Hand angelegt hat. „Ich bin weder Mitglied noch Arbeitnehmer der László-Teleki-Stiftung. Sie hat immer versucht, unabhängig von der politischen Farbe der an der Macht stehenden Regierung die Kontinuität ihrer Aktivität zu wahren.“
Noch mehr indirekte Kritik an Viktor Orbán wollte sich während der Eröffnung der knapp drei Wochen später wieder geschlossenen Wanderausstellung „Es ist Zeit, zu bauen“ im Bru-kenthalmuseum niemand herausnehmen. Viel zu hoch und qualitativ herausragend die Investitionen in das immobile Kulturerbe magyarischer Art außerhalb Ungarns, als dass man darauf mit einer öffentlichen Schelte hätte reagieren können. Die Erlösung, beim nächsten Mal einen angeseheneren Anführer zu wählen, ohne das Gute dessen schlechter Vorgängerpolitik zu rügen, steht wieder mal auf einem anderen Blatt.