Im „Güstrower Ehrenmal“ (Bronze, 1927), das dem Gedenken an die Toten des Ersten Weltkrieges gewidmet sein sollte, hatte Ernst Barlach die schwebende menschliche Gestalt, die ihn seit dem Doppelrelief „Die Vision“ von 1912 immer wieder beschäftigte, auf eine letzte Formel gebracht. Zunehmend abstrahiert, in der Arm- und Schulterpartie abgeflacht, wurde sie zu einer monumentalen Schicksalsfigur, zu einem unvergesslichen Symbol des ewigen Schweigens. Dieser Bote aus einer anderen Welt, der keine Flügel braucht, um zu schweben, braucht auch die Augen nicht mehr zu öffnen, um alles zu sehen und alles zu wissen. Barlachs „Schwebender Engel“ im Dom zu Güstrow kann erfahrbar werden als „wörtliche Darstellung eines inneren Zustands vom Überwundenhaben.“ Dass Barlach in dem Engel ihm „das Gesicht der Käthe Kollwitz hineingekommen“ ist, „ohne dass ich es mir vorgenommen hatte“, wie er seinem Verlegerfreund Reinhard Piper mitteilte, war wohl doch nicht so zufällig, denn das Schicksal der Käthe Kollwitz war 1927 bereits ein Synonym für die um ihre gefallenen Söhne trauernden Mütter.
Zum 150. Geburtstag des Bildhauers, Zeichners, Grafikers, Dramatikers und Erzählers Ernst Barlach sind drei bedeutsame Publikationen erschienen: „Die Hölzer“, die umfassendste Bilddokumentation zu Barlachs Holzskulpturen, eine vierbändige kritische Ausgabe der Briefe Barlachs und die erste große Biographie zu Barlach von Gunnar Decker.
Von 85 erhaltenen Holzbildwerken, deren Standort heute noch bekannt ist, sind 72 im Bildteil der „Hölzer“ abgebildet, in großformatigen Ganz- und Detailaufnahmen, in Frontal- und Seitenansicht. So ist tatsächlich ein „Festtagsbuch“ entstanden, in dem man mit Andacht und innerer Bewegung blättert. Barlachs Gebeugte und Bedrückte, Leidende und Verzweifelnde, Träumende und Widerstand Leistende preisen die Zeitlosigkeit. In den drei Reliefgestaltungen „Die Verlassenen“ (1913) suchen drei Frauen Geborgenheit in der Erde, in den Erhebungen des Reliefgrundes und sind doch einer bevorstehenden Katastrophe ausgeliefert. „Große Schwere und großen Schmerz“ zu ertragen, hat Barlach visionär vorausgeahnt. Das Ausgesetztsein einem schrecklichen Schicksal gegenüber ist in einer knienden weiblichen Figur, die entsetzt die Hände an den Kopf zusammengeschlagen hat, Gestalt geworden („Das Grauen“, 1923). Im „Wanderer im Wind“ (1934) spiegelt sich Barlachs persönliche Situation wider: „Statt römische Armgesten zu vollziehen (gemeint ist der Hitlergruß - Anm. K.H.), ziehe ich den Hut in die Stirn.“ In der Figur des „Flötenbläsers“ (1936) gelang Barlach dann noch einmal ein ähnlich schwereloser und heiterer, von der Zeit ganz unberührter Ton wie im „Fries der Lauschenden“(1935), jenen acht schlanken Holzfiguren, rhythmisch zusammengehalten zu einer Gemeinschaft – sie lauschen nach außen und in sich hinein. Das Lyrische bot sich ihm nun als Ausweg aus der Einsamkeit und Verfemung dieser Zeit an.
Zwei seiner letzten Hölzer, die „Frierende Alte“ und die „Lachende Alte“, entstanden in seinem schlimmsten Jahr 1937, sind von geradezu beschwörender Ausdruckskraft: zusammengekrümmt, erbärmlich leidend, ohne die menschliche Würde verloren zu haben, die eine, von einem irrsinnigen Lachen den Körper nach hinten geworfen, mit grotesk grimassierendem Mund die andere. Sie haben schon so viel im Leben durchgestanden, was wird ihnen da die jetzige Zeit noch anhaben können? Zu ihnen gesellt sich noch eine ganz stille Figur, der „Zweifler“ (1931), der kniend die Hände ringt, in qualvoller Ungewissheit, den Blick fragend-anklagend, aber auch fast schon wieder hoffend empor gerichtet. Dieser Abgesang des Plastikers Barlach ist erschütternd. Man glaubt ihn selbst, den immer schwerer Geprüften, die Hände ringen zu sehen wie diesen Zweifler, wenn er in seinem Güstrower Atelier daran dachte, was draußen seinen Geschöpfen geschah und was noch geschehen würde.
Was Barlach empfand, was er dachte, was ihn erschütterte oder erfreute, das hat er sarkastisch, bitterböse, dann wieder liebe- und verständnisvoll, resigniert und wieder mit banger Hoffnung, extensiv oder kurz und bündig in seinen Briefen geäußert. Die Briefe sind sein Leben. Ein Viertel der gut 2200 Briefe aus fünf Jahrzehnten (1888-1938) wird jetzt zum ersten Mal in einer vierbändigen kritischen Ausgabe – mustergültig kommentiert – der Öffentlichkeit vorgestellt. Der Briefschreiber Barlach war eine facettenreiche Persönlichkeit, ein scharfsinniger Beobachter deutscher Zeitgeschichte ebenso wie in der Selbstdarstellung als einsamkeitssüchtiger Einsiedler. Briefeschreiben war für ihn eine Qual, und doch hat er fast täglich seine Korrespondenz geführt. Sie dokumentiert seine innere Werk- und äußere Lebensgeschichte wie – mit der gleichen Bildkraft – die Persönlichkeiten seiner vielfältigen Briefadressaten erstehen.
Wer sich aber vor der Lektüre des voluminösen Briefwerkes scheut oder nur bestimmte aussagestarke Zeugnisse heranziehen will, der wird zur ersten großen Barlach-Biographie von Gunnar Decker greifen, der mit erzählerischer Verve die Lebensgeschichte Barlachs erstehen lässt: Barlachs russische Reise 1906, die einen Wendepunkt in seinem Schaffen darstellt, der Umzug nach Güstrow mit der Mutter und Sohn Klaus, der Erste Weltkrieg, der ihn von einem Befürworter zum Kriegsgegner werden lässt, die Arbeit an seinen Figuren, die Entstehungs- und Aufführungsgeschichte seiner Dramen, das Schicksal seiner fünf Denk- und Mahnmale, die in der NS-Zeit allesamt entfernt wurden. 1937 wurde für Barlach zum „schlimmsten Jahr“: Hunderte seiner Werke wurden beschlagnahmt, Barlach in die Ausstellung „Entartete Kunst“ aufgenommen, Ausstellungsverbot wurde ihm erteilt.
Decker zitiert viel, denn mit Zitaten übermittelt sich auch das Lebensgefühl jener Zeit. So wird die Biographie polyphon, mehrstimmig, vielstimmig, eine Biographie in vielstimmigen Sätzen und Zeugenschaften. Festgefügt scheint das Bild Barlachs, seine Lebensgeschichte gut ausgeleuchtet, doch Decker wählt für seine Biographie eine Struktur der offenen Form, der Brüche und des Fragmentarischen. Er will das Leben Barlachs nicht einfach festschreiben, er überliefert seine Vermutungen und Erwägungen an den Leser, ja auch an den wissenschaftlich Ambitionierten, darüber nachzudenken, weiter zu denken über Ernst Barlach, den Einsamen in Güstrow, der ein Exilierter im eigenen Land war. Bis zuletzt trieb Barlach das immerwährende Forschen und Fragen um, die Sehnsucht und Hoffnung, über den Zwiespalt des Menschseins hinauszugelangen, den er in seiner ganzen Tiefe selbst durchlebt und durchlitten hat. Die menschliche Existenz zwischen Himmel und Erde, der Erde verhaftet und der Grenzenlosigkeit des Raumes ausgesetzt, zwischen Identität und Fremdheit, Werden und Sein, Innen- und Außenwelt, der Blick eben in das zweifache Leben, das „höllisches Paradies“ oder „paradiesische Hölle“ sein kann. Keine der Barlachschen Gestalten begnügt sich mit dem Sein, jede will, hoffend und hartnäckig, das „Werden“. Auch wenn sie eine neue Bewusstseinsebene erreichen, bleibt ihre Unruhe bestehen.
Ernst Barlach: Die Hölzer. Hrsg. von Karsten Müller. Dortmund: Kettler 2020. 58 Euro. / Ernst Barlach: Die Briefe. Kritische Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Holger Helbig, Karoline Lemke, Paul Onasch und Henri Seel. Berlin: Suhrkamp 2020. 79 Euro (bis 31.1.2020), danach 98 Euro. / Gunnar Decker: Ernst Barlach. Der Schwebende. Eine Biographie. München: Siedler 2019. 28 Euro.