Vor dem Nationalen Kunstmuseum am Domplatz/Piața Unirii in Temeswar/Timișoara hat sich eine Menschenschlange gebildet. Es ist Mittwoch, der 4. Oktober, und draußen herrscht herrlich-sonniges Herbstwetter mit rund 20 Grad Celsius. Die Menschen stehen heute Schlange, um sich das Highlight des Kulturhauptstadtjahres im Kunstmuseum schlechthin anzuschauen, und das kostenlos. Immer am ersten Mittwoch im Monat öffnet das Kunstmuseum in Temeswar seine Tore für jene Besucher, die von dem kulturellen Angebot der Institution gratis profitieren wollen. Dies gehört zur Strategie der Museumsleitung, die sich dadurch eine Öffnung des Museums solchen Besuchergruppen gegenüber verspricht, die es sonst eher nicht dorthin verschlagen hätte. Vielleicht macht ein einmaliger Besuch Lust auf mehr. Die Menschen, die heute vor dem Kunstmuseum Schlange stehen, wollen sich die Constantin-Brâncu{i-Ausstellung ansehen. Eine Ausstellung mit Werken des renommierten rumänischen Bildhauers, der Frankreich zu seiner zweiten Heimat gemacht hat, wurde seit mehr als 50 Jahren nicht mehr in Rumänien veranstaltet. Eine einmalige Gelegenheit also, aus unmittelbarer Nähe Skulpturen wie „S²rutul“, „Domni{oara Pogany“ oder „Piatră de hotar“ zu bewundern, die von berühmten Kultureinrichtungen wie etwa dem Centre Pompidou in Paris, der Guggenheim Foundation in Venedig oder der Tate Gallery in London eigens für das Event ausgeliehen worden sind. Die Ausstellung „Brâncuși: Rumänische Quellen und universelle Perspektiven“ kann bis zum 28. Januar 2024 besichtigt werden.
Fast zehn Monate des Europäischen Kulturhauptstadtjahres 2023 sind bereits vergangen. Mit einer grandiosen Show am Domplatz, bei der mehrere Bands aus Rumänien und dem Ausland auftraten, darunter die spanische Kompanie „Voalá Project“, die eine Laufakrobatik-Aufführung zur Musik von „Duchamp Project“ bot, oder der Lautari-Gruppe „Taraf de Caliu“, wurde am Wochenende des 17. bis 19. Februars 2023 das Europäische Kulturhauptstadtjahr offiziell eröffnet. Temeswar bekam den Melina-Mercouri-Preis der Europäischen Kommission in Höhe von 1,5 Millionen Euro zugesprochen – de facto eine Anerkennung der Tatsache, dass die Stadt an der Bega tatsächlich auch bereit ist, dem Titel einer Europäischen Kulturhauptstadt gerecht zu werden. Seitdem fanden in Temeswar zahlreiche Veranstaltungen statt, die in allen Bereichen der Kultur angesiedelt waren. Da kam beispielsweise der „heiterste aller Philosophen“ nach Temeswar, der Philosoph, Kulturwissenschaftler und Publizist Peter Sloterdijk, der im Februar einen Vortrag an der West-Universität hielt. Ein weiterer Höhepunkt des Kulturhauptstadtprogramms an der West-Uni war definitiv auch das Treffen mit dem türkischen Schriftsteller Orhan Pamuk Anfang April.
Das Theaterstück „Zambara Kabarett“, das das unabhängige Basca-Theater im März aufführte, war so rasch ausverkauft, dass viele Theaterfreunde leider keine Tickets mehr ergattern konnten, und die „schillernde Revue rund um Liebe, Sex und Pasodobles ´Ball im Savoy´“ an der Staatsoper Temeswar, für die Starregisseur Răzvan Mazilu Regie führte, bot ein Rundum-Erlebnis für Auge und Ohr. Das Kunstmuseum beherbergte zu Beginn des Kulturhauptstadtjahres die „Victor Brauner“-Ausstellung. Im Mai konnten Touristen und Temeswarer zwei weitere Ausstellungen in der Stadt an der Bega besichtigen: Zum einen war es die Sonderausstellung „Prinz und Sultan – Jahrzehnte des Krieges und der wechselnden Fronten an den Grenzen der Hohen Pforte (1683 – 1716)“, die das Nationalmuseum des Banats veranstaltete, andererseits war es die kleine Kunstausstellung „The Impossible Body“ mit Werken von Adrian Ghenie im ISHO-Pavillon, eine private Initiative des Geschäftsmannes Ovidiu Șandor und seiner „Art Encounters“-Stiftung. Der Monat Juni ließ die „Heimattage der Banater Deutschen“ im „Heimatjahr“ 2023 in Temeswar über die Bühne gehen und Temeswarer wie auch Touristen an dem deutschen Fest teilhaben.
Anders als in den Vorjahren gab es in diesem Sommer kein sogenanntes „Sommerloch“, ganz im Gegenteil: Die Ereignisse häuften und überlappten sich manchmal, sodass einem die Entscheidung, welchem Event man denn beiwohnen sollte, nicht selten schwer fiel. Von Kunstausstellungen bis hin zu Theateraufführungen und Konzerten war alles dabei.
Die „Orgeln der Festung“ erklangen von Juli und bis Anfang September in Temeswar. Das durch die Bemühungen des Kulturvereins „Timorgelfest“ organisierte Festival erlebte seine zweite Auflage und umfasste insgesamt 16 Orgelkonzerte – 14 davon in verschiedenen Kirchen Temeswars, darunter in vielen römisch-katholischen Gotteshäusern, und zwei im Orpheum-Saal der Musikfakultät bzw. in der Aula Magna der West-Universität. Am Eröffnungsabend des Festivals „Die Orgeln der Festung“ ging es zugleich auch mit dem „JAZZx“ los – das internationale Jazzfestival, das immer im Sommer Jazz-Größen aus der ganzen Welt auf der Bühne in der Innenstadt auftreten lässt. Das Nationaltheater Temeswar brachte den renommierten US-amerikanischen Schauspieler John Malkovich nach Temeswar – die drei Aufführungen von „The Infernal Comedy“ von und in der Regie von Michael Sturminger waren allesamt ausverkauft.
Für Liebhaber moderner Kunst stand im Juli und teils auch im August die „Romul Nuțiu“-Retrospektivausstellung im Kunstmuseum offen, und Ende Juli gab es die großangelegte Temeswarer Theatervorstellung „Jugend ohne Alter und Leben ohne Tod“ mit 55 Schauspielern, Musikern und Freiwilligen, 14 Ton- und Lichttechnikern am Freiheitsplatz in Temeswar. Alle sechs Aufführungstage waren komplett ausverkauft, doch zum Glück konnte man das Märchen auch im Stehen kostenlos verfolgen. Das Deutsche Staatstheater Temeswar (DSTT) beendete seine Spielzeit mit der Aufführung „Der Drache“ von Jewgeni Schwarz in der Regie von Yuri Kordonsky – „ein fesselndes Märchen, ein packendes Drama, versehen mit humorvollen Szenen und auflockernden, unerwarteten, komischen Wortmeldungen, nicht zu viel und nicht zu wenig, damit die schwere Kost noch so halbwegs verdaut werden kann“, wie ADZ-Redakteurin Astrid Weisz in ihrer Theaterkritik nach der Premiere schrieb. Zum Stadtfest Anfang August erklang erstmals der Temeswarer Gemeinschaftschor – der Auftritt soll zu einer Tradition in Temeswar werden.
Das internationale Theaterfestival „Eurothalia“ bot Mitte bis Ende September ein vielfältiges Programm am DSTT. Und, nicht zu vergessen: Ein weiterer Höhepunkt des Kulturhauptstadtjahres war das große Kulturprojekt der Partnerstädte Temeswar und Gera, wodurch Arnold Schönbergs „Gurre-Lieder“ im Rosenpark erklangen – dargeboten wurden sie von mehr als 350 Musikern des Philharmonischen Orchesters Altenburg Gera, der Banatul-Staatsphilharmonie, des Chors der Rumänischen Nationaloper Temeswar, des Rutheneum-Konzertchors aus Gera sowie des Chors des Temeswarer Ion-Vidu-Musiklyzeums.
Nichtsdestotrotz gibt es immer noch viele Temeswarer, die behaupten, in der Europäischen Kulturhauptstadt 2023 sei nichts oder nichts Wichtiges los. Schaut man sich die Kommentare in den Sozialnetzwerken an, fällt einem auf Anhieb die Menge an negativen Bemerkungen in Bezug auf das Europäische Kulturhauptstadtjahr auf. Einige beziehen sich dabei auf die „offiziellen Zahlen“. Einer Statistik des Nationalen Statistikamts (INS) zufolge wurde der Kreis Temesch/Timi{ in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres von knapp über 185.000 Touristen besucht. Auf Landesebene sollen die meisten nach Bukarest (mehr als 1,027 Millionen), Kronstadt/Brașov (über 816.000) und Konstanza (fast 808.000) gereist sein. Temeswar als „touristischer Motor des Kreises Temesch“ schien – zumindest laut den INS-Daten – keine besondere Anziehungskraft auf Touristen auszuüben.
Doch die Wirklichkeit vor Ort sieht anders aus, als die „nackten Zahlen“ beschreiben. „Ich weiß nicht, welche Zahlen berücksichtigt wurden und woher diese stammen, doch sicher ist, dass für jemanden, der jeden Tag in der Stadt unterwegs ist (ich arbeite im Zentrum), die Stadt voller Touristengruppen ist, wie ich sie in Temeswar so noch nie gesehen habe“, beschreibt die Temeswarerin Lavinia Georgescu die Situation vor Ort. Ein einziger Spaziergang durch die Stadt, sei es an einem beliebigen Arbeitstag oder am Wochenende, reicht, um zu bemerken, dass das auch wirklich stimmt. Sei es vor dem Eingang ins Kunstmuseum, vor der Orthodoxen Kathedrale im Stadtzentrum, einem beliebten Startpunkt für Stadtführungen, am Fischbrunnen oder während der Öffnungszeiten vor der viel kritisierten „Baumschule“, dem Metallgerüst am Opernplatz, von dem aus man die Innenstadt aus der Vogelperspektive betrachten kann: Touristengruppen, die verschiedene Sprachen sprechen, sind in Temeswar fast ständig unterwegs.
Vielleicht ist es nur eine Frage der Perspektive – denn tatsächlich scheinen Besucher viel begeisterter von Temeswar zu sein als manch einer, der schon immer hier gelebt hat. Der ehemalige Lehrer an der Nikolaus-Lenau-Schule, Dieter Klein, der seit 2019 nun erstmals wieder im September nach Temeswar gereist ist, beschreibt es treffend: „Wir haben in meinem Berufsleben achtmal den Wohnsitz gewechselt. Und weil vier davon uns wie Heimaten ans Herz gewachsen sind, haben wir sie immer wieder besucht. Je länger die Zeitdauer unserer Abwesenheit von der jeweiligen Heimat war, desto größer die Wahrnehmung von Veränderungen. Das trifft auch auf Temeswar zu. Allen Kritikern sei also empfohlen, sich für einige Jahre woanders hin zu begeben, um danach staunend Unterschiede feststellen zu können, die ihnen sonst verborgen geblieben wären, weil sie mit ihnen gewachsen sind...“