Unlängst ist im Verlag Peter Lang in Berlin eine Sammlung von literaturwissenschaftlichen, kulturhistorischen sowie presse-, schul- und universitätsgeschichtlichen Aufsätzen deutscher, österreichischer und rumänischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter dem Titel „Siebenbürgen als Erfahrungsraum“ erschienen. Zusammengestellt und herausgegeben wurden jene achtzehn Aufsätze von den beiden Hermannstädter Germanistinnen Maria Sass und Doris Sava, die diesen ersten Band der Publikationsreihe des Zentrums für linguistische, literarische und kulturelle Forschung (ZLLKF) an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt ihrer Kollegin Sunhild Galter gewidmet haben.
Das informative Vorwort der beiden Herausgeberinnen sowie die Tatsache, dass jedem einzelnen Beitrag eine „Abstract“ genannte Zusammenfassung in englischer Sprache vorangestellt ist, erleichtern die Orientierung in diesem lesenswerten Band ungemein, der vom hohen Niveau der Hermannstädter Germanistik zeugt und zugleich deren Fähigkeit unter Beweis stellt, hochverdiente germanistische Linguisten, Literarhistoriker und Kulturwissenschaftler auf internationalen Konferenzen und in multidisziplinären Publikationen vereinen zu können und auf diese Weise die ‚scientific community’ über die Grenzen Rumäniens hinaus lebendig werden zu lassen.
Am Anfang des Bandes steht nicht von ungefähr Hermannstadt/Sibiu, denn „im Oktober 2019 feierten die Hermannstädter Universität und somit auch die Germanistik ein rundes Jubiläum“ (S. 7). Mit dem im Juni 1969 gegründeten Hermannstädter Lehrstuhl für Germanistik und seiner Geschichte beschäftigen sich im vorliegenden Band gleich zwei Autoren: der langjährige Geschäftsführer der Donauschwäbischen Kulturstiftung des Landes Baden-Württemberg, Eugen Christ (Stuttgart), sowie eine der beiden Herausgeberinnen des Sammelbandes, die Hermannstädter Germanistin Doris Sava.
Daran schließt sich der umfangreichste Beitrag des Bandes an, ein Aufsatz von Walter Engel (Düsseldorf), der sich mit einem besonderen Kulturereignis aus dem Gründungsjahr des Hermannstädter Germanistiklehrstuhls auseinandersetzt: mit dem Besuch des Schriftstellers Günter Grass am 7. und 8. November 1969 in Hermannstadt. Der „Solidarität eines Schriftstellers in Zeiten des ‚Kalten Krieges’“ überschriebene Beitrag schildert zunächst die politischen Hintergründe der Rumänienreise des Autors der „Blechtrommel“. Willy Brandts „Neue Ostpolitik“ und das kulturpolitische Klima in Rumänien schienen günstige Vorzeichen für einen erfolgreichen Schriftstellerbesuch aus dem Westen zu sein, der dann allerdings mit einem Eklat begann, weil Grass sich weigerte, in Bukarest eine Buchausstellung zu eröffnen, aus der man die Bücher deutscher Autoren verbannt hatte, die in der DDR politisch in Ungnade gefallen waren – eigentlich ein innerdeutscher Konflikt, der hier jedoch auf dem Boden Rumäniens ausgetragen wurde! Dennoch las Grass anderntags im Hermannstädter Brukenthal-Museum und versuchte, im Anschluss daran sogar eine Diskussion zu initiieren, die aber nicht so recht in Gang kommen wollte. Am darauffolgenden Morgen besuchte Grass noch die Redaktion der Hermannstädter Zeitung, das Brukenthal-Lyzeum, wo er an einer Deutschstunde teilnahm, sowie die Hermannstädter Stadtpfarrkirche, bevor er über Bukarest wieder in seine Heimat zurückkehrte. Er blieb Rumänien in der Folgezeit weiterhin verbunden und unterstützte Autoren wie Frieder Schuller oder Günther Schulz bei deren Ausreisebemühungen in den Westen.
Die Reihe der literarhistorischen und literaturwissenschaftlichen Aufsätze dieses Bandes wird fortgesetzt mit Beiträgen zur deutschen Literatur aus Siebenbürgen: Sigurd Paul Scheichl (Innsbruck) beschäftigt sich mit der speziell siebenbürgischen Komponente bei der Rezeption deutscher Autoren aus Rumänien, während sich Grazziella Predoiu (Temeswar) mit den experimentellen Texten Oskar Pastiors auseinandersetzt und Matthias Bauer (Flensburg) sein Augenmerk auf die Erzählkunst Paul Schusters richtet.
Die beiden in Hermannstadt geborenen Gegenwartsautoren Joachim Wittstock und Iris Wolff sind Gegenstand weiterer Beiträge im vorliegenden Band. Dessen Herausgeberin Maria Sass analysiert Joachim Wittstocks 2018 erschienene Erzählung „Forstbetrieb Feltrinelli“ unter dem Gesichtspunkt der Verbindung von Mythos und Autobiographie, während Nadjib Sadikou (Flensburg) den 2015 erschienenen Roman „Leuchtende Schatten“ von Iris Wolff im Hinblick auf Identitätskonzepte und raumphilosophische Fragen untersucht.
Enikö Dácz (München) beschäftigt sich mit dem literarischen und publizistischen Werk des siebenbürgischen Autors Heinrich Zillich insbesondere zur Zeit des Nationalsozialismus und legt dar, dass der 1898 in Brenndorf/Bod bei Kronstadt/Braşov geborene Schriftsteller zu denjenigen gehörte, „die sich für Propagandazwecke einsetzen ließen und vom Nationalsozialismus profitierten“ (S. 178). Réka Jakabházi (Klausenburg/Cluj-Napoca) befasst sich mit der in Kronstadt herausgegebenen ungarischen Tageszeitung „Brassói Lapok“, die von 1895 bis 1940 durchgängig erschien und vor allem in den 1930er Jahren eine wichtige Vermittlerrolle zwischen der deutschen, rumänischen und ungarischen Literatur und Kultur spielte. Mit Kulturinterferenzen in der Hermannstädter Presse beschäftigt sich die Hermannstädter Germanistin Carmen Popa, wobei sie als zeitliche Eckpunkte ihrer Untersuchung die Jahre 1868 und 1946 nennt.
Manuel Stübecke (Berlin) befasst sich in seinem kulturhistorischen Beitrag mit dem Vampirglauben in Siebenbürgen, den Maria Theresia im Jahre 1755 mit dem sog. Vampirerlass zu bekämpfen suchte, und geht dabei der Frage nach, ob es stimmt, „dass die Protestanten möglicherweise zu aufgeklärt für den Vampir waren und ihm daher nur ‚orthodoxe Bauern’ zum Opfer fielen“ (S.209). Nach einem Überblick über die rumänische Folklore, wo der Vampir als „strigoi“ bezeichnet wird, und nach Hinweisen auf kaiserlich-königliche Berichte über Blutsauger in Siebenbürgen, kommt der Autor auf das „untote Treiben bei den Protestanten“ (S. 221) zu sprechen, wo der „Nachzehrer“ als „deutsche Variante des balkanischen Vampirs“ im Blickpunkt steht. Vom Ort Nußbach/Măieruş bei Kronstadt wird in Chroniken über die Pfählung des Leichnams einer Frau im Jahre 1719 berichtet, die als Vampirin und Blutsaugerin betrachtet wurde. Insge-samt scheint aber doch das reformatorische Bekenntnis ein wirksames Antidot gegen den Vampir(aber)-glauben in Siebenbürgen gewesen zu sein.
Ein linguistischer Beitrag von Gerhild Rudolf (Hermannstadt) zum Ortsnamen „Hermannstadt“ in der visuellen urbanen Sprachlandschaft, ein sprachdidaktischer Beitrag von Liana Regina Iunesch (Hermannstadt) zur Lesekompetenz an Schulen mit Deutsch als Unterrichtssprache in Hermannstadt, ein schulgeschichtlicher Beitrag von Rodica Brad (Hermannstadt) zur Geschichte des Schulwesens in Siebenbürgen am Beispiel der Schule von Gura Râului, ein universitätsgeschichtlicher Beitrag von Anneli Ute Gabanyi (Berlin) über die Jahre 1940 bis 1945, während denen Hermannstadt die Klausenburger „König Ferdinand I.“-Universität in ihren Mauern beherbergte, und last but not least ein interkultureller Beitrag von Radu Drăgulescu (Hermannstadt) zum Einfluss der geistig-kulturellen Prägung Siebenbürgens auf den rumänischen Schriftsteller George Coşbuc runden den lesenswerten Aufsatzband ab, dem ganz am Ende noch ein Verzeichnis aller Autorinnen und Autoren beigegeben ist.