Das Quietschen der Bremse und der Ruck des plötzlich stehenden Kleinbusses weckten Elena auf. Leicht schlug ihr Hinterkopf gegen die hart gepolsterte Kopflehne des Sitzes, in dem sie mit wenigen und kurzen Unterbrechungen die letzten dreiundzwanzig Stunden verbracht hatte. Ihre blonden Haare hatten sich teilweise aus dem Pferdeschwanz gelöst und umrahmten ihr schmales Gesicht, aus dem die blauen Augen jetzt geblendet ins aufsteigende Tageslicht blinzelten. Die Frage „Bin ich da?“ stand ihr ins Gesicht geschrieben, betont durch die rechte Augenbraue, die sich ein wenig höher als die linke in ihre hohe Stirn hob und ihrem fragenden Ausdruck einen besonderen Reiz verlieh, so dass man es nicht eigentlich als einen Tick bezeichnen konnte. Da sie schon seit einigen Stunden als einziger Fahrgast im Wagen geblieben war und die Müdigkeit sie zuletzt übermannt hatte, war sie doch noch eingeschlafen. Endlos war ihr die Fahrt vorgekommen, besonders in den lange sich hinziehenden Stunden der Dunkelheit. Sie hatte nicht richtig schlafen können, auf ihrem Fensterplatz, gleich hinter dem Fahrer, wo sie durch den dünnen Vorhang vom Scheinwerferlicht der vorbeifahrenden Autos ständig geblendet wurde, besonders auf den Schnellstraßen, wohin man von der Autobahn zu den unterschiedlichen Zielen abzweigen musste. Und das, obwohl ihre Sitznachbarin, eine sehr freundliche, aber viel zu neugierige und gesprächige Frau aus Elenas Nachbardorf, schon nach Anbruch der Nacht friedlich neben ihr geschnarcht hatte und auch gleich nach der deutschen Grenze in einem kleinen bayerischen Dorf ausgestiegen war.
Der Kleinbus hatte insgesamt acht Frauen aus einigen rumänischen Ortschaften, die sich zwischen Deva, wo Elena zugestiegen war, und der Grenze zu Ungarn befanden, aufgelesen. Die meisten waren ihrer Einschätzung nach im frühen Rentenalter, nur zwei waren etwa so alt wie Elena, waren gemeinsam zugestiegen und kannten einander offensichtlich, weil sie sich die ganze Zeit angeregt über ihr Privatleben unterhielten, so dass, weil sie zufällig hinter ihr saßen, Elena schon bald ihren französischen Krimi weggelegt hatte. Die meisten hatten nicht besonders viel Gepäck bei sich, trotzdem war es für Mihai, den Fahrer, zunehmend ein Problem gewesen alle mehr oder weniger raumsparend geformten Gepäckstücke im Kofferraum zu verstauen. Doch er war guten Willens und auch guter Laune und schien bei den kurzen Zwischenhalten seine Fahrtüchtigkeit zu regenerieren, so dass sich Elenas anfängliche Bedenken, ob er als einziger Fahrer die lange Fahrt bewältigen könne, sich nach kurzer Zeit zerstreuten. Auch zwischen den einander unbekannten Mitfahrerinnen löste sich bald nach ihrem Einsteigen die Anspannung und die Klänge der rumänischen Volksmusik aus dem Lautsprecher gingen in ihrem munteren Geplauder unter.
Die Fahrgäste waren ein bunter Haufen energiegeladener Weiblichkeit, auf der Reise nach Deutschland, jede von ihnen mit dem Ziel, dort als Pflegerin oder Haushaltshilfe zu arbeiten, zur Unterstützung ihrer Familien, zur Aufbesserung ihres bescheidenen Einkommens. Bei jenen von ihnen, die diese Reise und vielleicht auch zum allerersten Mal überhaupt so eine lange Reise weg von zu Hause machten, kam noch die Aufregung und Neugier dazu, und in ihren Unterhaltungen konnte man oft das Stoßgebet „Herr gib...“ heraushören. Es war ja alles ein wenig ungewiss, wie und wo man ankommen würde, weil ein Name und eine Adresse noch nichts über die Menschen aussagen, in deren Leben jede von ihnen, wenigstens für eine Zeit, einen sehr wichtigen Platz einnehmen sollte...
„Du wirst sehen, es gefällt dir dort. Die Leute sind sehr anständig!“ hatte Elenas Mutter gesagt, nachdem sie ihrer Tochter diesen Job über ihre gute Freundin arrangiert hatte. Es hatte sich herumgesprochen, dass Frau Maria eine zuverlässige Vermittlerin von Pflegekräften war, und so ziemlich alle Frauen mit ihren „Pflege-Familien“ gut zurecht kamen. Das hatte ihre Mutter ihr immer wieder gesagt, wenn diese ihre Zweifel zu ihrem bevorstehenden Arbeitsplatz äußerte. Elena hatte nach ihrer Ausbildung über sechs Jahre lang in einem Maschinenbaubetrieb als Sekretärin gearbeitet und vor Kurzem ganz plötzlich, mit dem Bankrott der Firma, ihren Job verloren. Das war für die jetzt Fünfundzwanzigjährige ein schwerer Schock gewesen, da sie dort gerne gearbeitet hatte und auch wegen ihres Fleißes sehr geschätzt war. Ihre wiederholten Versuche, eine gleichwertige Anstellung in einem anderen Betrieb in Deva oder der Umgebung zu finden, waren gescheitert. Elenas Mutter hatte mit ihr gefiebert und ihre Sorge für einen neuen Arbeitsplatz geteilt und war dann plötzlich auf die Idee gekommen, sie solle, auch um Abstand zu dem Erlebten zu gewinnen, eine Zeit lang als Pflegerin in Deutschland arbeiten. So hatte Elena bald eingesehen, dass kein neuer Sekretärinnen-Job ihr monatlich 1000 Euro einbringen würde, wie die Pflegearbeit in Augsburg, in der Stadt, die ihrer Mutter schon vor vielen Jahren so gut gefallen hatte.
Elenas Mutter hatte als junge Frau selbst fünf Jahre lang als Pflegerin in Deutschland gearbeitet. Nach Beendigung des Gymnasiums, nachdem sie nicht auf der Hochschule zu einem Sprachstudium angekommen war, hatte sie die Lehre zur Schneiderin abgeschlossen. Doch dann musste ihr Vater, das heißt, Elenas Großvater, die Tischlerei aufgeben, und es wurde bekannt, dass die Pflegerinnen in Deutschland viel mehr Geld verdienen, als ihr als Schneiderin in Deva zugestanden hätte. So war Elenas Mutter zu einer guten und großzügigen Familie nach Augsburg gekommen, wo sie dank ihres Fleißes und ihrer Zuverlässigkeit fünf Jahre lang geschätzt und geliebt arbeiten konnte und sich zwischen ihr und den dortigen Leuten ein freundschaftliches Verhältnis entwickelte. Wieder nach Hause zurückgekehrt, heiratete sie und war dann einige Jahre mit ihrer jungen Familie beschäftigt, in der Elena als Älteste mit noch zwei Brüdern aufwuchs, während ihre Mutter mit ihrer Schneiderarbeit zwar wenig verdiente, aber dafür immer für die Kinder da war. Über ihre Zeit in Augsburg hatte sie zu Hause nicht so viel erzählt, nur dass es für sie eine sehr glückliche Zeit gewesen war. Der Vater, ein stiller, fleißiger Mann, dem ihre beiden Brüder mit ihren dunklen dichten Haaren ähnlich sahen, und der Elena in ihrer Kindheit immer Goldlöckchen genannt hatte, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Es war ein heftiger Schicksalsschlag für die ganze Familie gewesen, damals, vor erst sieben Jahren, für die so früh allein gebliebene Mutter, wie auch für ihre drei Kinder, die noch nicht einmal alle erwachsen geworden waren. Doch die ältere Elena stand ihrer Mutter besonders nahe und darum hatte sie auch jetzt den Rat ihrer Mutter befolgt und sich zu dem Versuch dieser neuen Tätigkeit in der Fremde entschieden. Elena wollte auf jeden Fall aufhören, wenn sie damit nicht zurecht kommen würde. Die Aufgaben, die auf sie warteten, und zwar den Haushalt für einen alleinstehenden alten Herrn zu führen, seine Wohnung in Schuss zu halten, ihn wegen den Folgen einer Lähmung bei der Körperpflege und bei Spaziergängen zu unterstützen, würden hoffent-lich für sie kein Problem darstellen, vorausgesetzt zwischen ihr und Herrn Konrad Aufmann, ihrem Arbeit- und Geldgeber, würde die Chemie stimmen.
Das Haus, auf das Elena mit ihrem mittelgroßen Koffer und einer Reisetasche durch das auf Knopfdruck geöffnete Gartentor zuschritt, wurde nach der dichten Hecke sichtbar und machte einen sehr gepflegten Eindruck. Die letzten Blumen des Frühlings blühten vereinzelt in steinumrandeten Beeten, aus denen an mehreren Stellen das Unkraut vorwitzig über den Weg wuchs. Hohe Bäume warfen ihre Schatten darüber und da war auch ein Walnussbaum, unter dem eine einladende Bank stand. Darüber freute sich Elena sehr, denn in ihrem Garten zu Hause war auch ein Walnussbaum, der dort seit der Hochzeit ihrer Eltern stand und den sie nicht missen wollte. Elena wurde am Haustor von ihrer rumänischen Vorgängerin empfangen, eine ältere, sehr schlanke Frau, die nach jahrelanger Pflegearbeit den Aufgaben nicht mehr gewachsen war und diese Tätigkeit aufgeben wollte. Elena war froh, dass die Frau ein wenig Zeit hatte, sie vor ihrer Abreise mit der sehr geräumigen Wohnung und den Aufgaben vertraut zu machen. Sie folgte ihr, nachdem sie, entsprechend ihrer Gewohnheit, im Flur die Schuhe ausgezogen und ihr Gepäck abgelegt hatte, in ein sehr großes Wohnzimmer mit glänzendem Parkettboden, schweren, sehr alten und dunklen Möbeln, zu denen die Gestalt, die vor dem sonnendurchfluteten Fenster auf einem Stuhl saß und auf sie wartete, einen hellen Kontrast bildete.
Elena gefiel, was sie sah, der Raum nahm sie sofort einladend in seiner Mitte auf, sie freute sich, nun endlich ihre Deutschkenntnisse, die sie sich in der Schule angeeignet und mit ihrer deutschen Schulfreundin Elise gerne ausprobiert hatte, einsetzen zu können. So schritt sie beherzt auf den grauhaarigen Herrn zu, dessen sympathisches Lächeln sie beim Näherkommen erleichterte, und sagte, mit ausgestreckter Hand und ziemlich akzentfrei: „Guten Tag, Herr Aufmann.“ Das spontane Lachen, das ihr aus dem gutgeschnittenen Gesicht des alten Herrn entgegenschlug, ließ Elena aufatmen. „Das klingt ja wunderbar! Darf ich Sie Elena nennen?“ Elena stockte der Atem, als sie vor ihm stand, und der Grund dafür waren nicht die großen Räder, die sie plötzlich an den Seiten von Herrn Aufmanns Stuhl entdeckte. Es war sein freundliches, von dichten grauen Haaren gekröntes Gesicht, mit der hohen Stirn und der rechten hochgezogenen Augenbraue.