Unmittelbar nach dem Erscheinen der Nachricht im Jahre 2010, dass der Lyriker Oskar Pastior (1927–2006) 1961 bis 1969 Informant der rumänischen Securitate war, und der dadurch losgetretenen Debatte in der Presse, hat der in Katzendorf/Cața geborene siebenbürgische Dichter, Schriftsteller und Dramaturg Frieder Schuller eine erste Fassung seines Theaterstückes „Ossis Stein“ geschrieben. Nun ist es in Buchform erschienen.
„Ein Versuch, Oskar Pastior zur literarischen Gestalt zu machen“, lautete es in der Presse nach der ersten Lesung des Theaterstücks von Frieder Schuller 2011 an der Berliner Humboldt-Universität. Nun, die Jahre sind vergangen, was damals ein Versuch war, wurde später ein „Work in progress“. Das Stück wurde öfters gelesen, besprochen, dann gespielt und zwischendurch immer wieder verändert, Teile wurden weggelassen oder ergänzt. Als es dann Zeit war, und es war Zeit, ist der endgültige Text in Buchform erschienen.
Im Juli 2020 ist Frieder Schullers „Ossis Stein, Zwei Theaterstücke“, gefördert vom Rumänischen Kulturinstitut Bukarest, im Ludwigsburger Pop Verlag veröffentlicht worden.
Es war wohl ein Herzenswunsch Schullers, neben seinem viel diskutierten „Ossis Stein oder Der werfe das erste Buch; Ein rumänischer Volkstanz mit wechselnden Paaren“ auch ein zweites Theaterstück „Tanz mit der Stille; Eine siebenbürgische Bühnenerinnerung“ in diesen Band aufzunehmen.
Beide Stücke wurden 2013 bzw. 2014 in der Scheune des Pfarrhofs im siebenbürgischen Katzendorf während des mehrtägigen Kulturfestes, dessen Initiator Frieder Schuller ist, von der deutschen Abteilung des Radu-Stanca-Theaters Hermannstadt/Sibiu gespielt. Die Premiere von „Ossis Stein“ fand bereits am 7. November 2012 am Hermannstädter Radu-Stanca-Theater statt (siehe dazu: „Siebenbürgische Zeitung“ vom 27. Januar 2013 „Wir wissen, was du vergessen hast“ von Michaela Nowotnick).
An der Badischen Landesbühne Bruchsal wurde am 15. November 2015 „Ossis Stein“ als Gastspiel der deutschen Abteilung des Nationaltheaters von Hermannstadt/Sibiu mit großem Erfolg aufgeführt. Ermöglicht wurde die Zusammenarbeit der zwei europäischen Bühnen durch den unermüdlichen brückenbauenden Kulturmanager Franz Csiky mit der Unterstützung des deutschen Generalkonsulats in Hermannstadt und des Luxemburger Kulturministeriums.
Wie bereits erwähnt, zeigt der „Rundfunkreporter Ossi“ aus Schullers Theaterstück deutliche Ähnlichkeit mit dem in Hermannstadt geborenen Dichter Oskar Pastior. Tatsächlich könnte man annehmen, alle Namen, Orte und Begebenheiten in diesem Theaterstück seien erfunden. Frieder Schuller tut aber das Gegenteil davon, was Autoren üblicherweise in jenem Satz versprechen, den sie ihren Werken voranstellen, nämlich: „Jede Ähnlichkeit mit irgendeiner wirklichen Person ist zufällig.“
Den Band eröffnet ein Text ohne Titel, ohne Unterschrift. Im Inhaltsverzeichnis, am Ende des Buches, wird dieser Text als „Vorwort“ bezeichnet. Passender wäre der Titel „Der Dichter, als Prolog“, denn der Autor nimmt direkt und ohne Umschweife Bezug auf den Dichter Oskar Pastior. Die letzten Worte Frieder Schullers in seinem Prolog über den Lyriker Oskar Pastior lauten: „Aus Hermannstadt ging über Bukarest ein genialer Dichter in die Welt. Er stolperte auf diesem Weg, ließ auch Trümmer zurück, bis er in Deutschland seinen eigenen, neuen, aber unverkennbaren Pfad beschritt. Oskar Pastior wird ein großer Dichter und eine beladene Geschichte bleiben.“
Frieder Schuller, der Autor von „Ossis Stein oder Der werfe das erste Buch“, hatte einen guten Grund, dieses Stück zu verfassen. Als 2010 bekannt wurde, dass Oskar Pastior – Büchner-Preisträger – , als IM der Securitate in den 60er Jahren verpflichtet worden war, ereiferten sich viele, ihre Meinung in den Journalen kund zu tun. Plötzlich hatte man die Gelegenheit, in den großen Zeitungen Europas Kleines aus Transsylvanien hinauszuposaunen. Man nahm sich wichtig und merkte die eigene Lächerlichkeit nicht. Europa lachte für kurze Zeit und vergaß schnell die Peinlichkeiten aus dem „mioritischen Raum“.
Auf die Frage der FAZ im November 2010 an einen Literaturhistoriker: „Muss der Mensch Oskar Pastior nach Ihrem heutigen Kenntnisstand neu bewertet werden?“, antwortete er: „Der Mensch Pastior schon, der Dichter nicht.“
Der IM-Deckname Pastiors – „Otto Stein“ – sowie sein Rufname im Freundeskreis –„Ossi“ – ergeben ein gelungenes Titel-Amalgam. Ausgehend von der biblischen Perikope „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein!“ formuliert Frieder Schuller, den ersten Teil des Satzes weglassend, den Titel seines Theaterstückes: „Der werfe das erste Buch“. Dadurch schafft er ein „rings umhauenes Stück“, eine Apologie, eine vielschichtige literarische Verteidigungsschrift für den Dichter und Büchner-Preisträger Oskar Pastior.
Von der ersten Szene an, die einen eigenen Titel trägt „Heimische Ouverture Mioritza/ Das Lämmchen“, wird ein Bogen bis zur Mitte des Stückes gespannt. Schritt für Schritt, in losen zusammenhängenden Szenen, die Titel wie „Hora“, „Begegnung“ oder „Nicu, der politische Witz“ tragen, wird das vorbestimmte Schicksal Ossis dargestellt. So wie in einer griechischen Tragödie die Götter das Schicksal des Menschen bestimmen, wird in Schullers Stück, gleich in der ersten Szene, das Los des Anti-Helden Ossi durch die Mächte eines ihm feindlich gesinnten Regimes entschieden. Schuller greift zu Mitteln der Parodie und dichtet in Anlehnung an den Duktus des Originals, also der rumänischen Ballade „Mioritza“, eine eigene Version, in der Ossi symbolisch „erschlagen wird“. Der Genosse Dan verkündet: „Den Oskar Pastior werfen wir in die Schlucht, / in unseren Listen wird der Otto Stein gebucht.“ Der gespannte Bogen endet in der „23. Begegnung“, einer Szene, in der Matthias Claudius Gedicht „Der Tod und das Mädchen“ in der Vertonung von Franz Schubert erklingt. Der Genosse „drückt Ossi eine Füllfeder in die Hand, führt die Hand über das Papier“. Ossi unterschreibt die Verpflichtungserklärung als IM der Securitate und bekommt den Decknamen „Otto Stein“.
Schuller ist ein brillantes Lehrstück in leichter Brecht‘scher-Manier, mit geschickt eingestreuten Verfremdungseffekten gelungen. Durch die Reduktion der fünf Agierenden – Der Genosse Dan, Das Flittchen Poesie Silvia, Der Handlanger Paul, Nicu, der politische Witz und Der Rundfunkreporter Ossi – auf wenige Eigenschaften, die schon auf der ersten Seite, in der Personenbeschreibung eindeutig in Erscheinung treten, fällt es dem Publikum leicht, zu verstehen, was als Demonstration auf der Bühne vorgeführt wird. Im Stück erfahren die Personen keine Veränderung, sie entwickeln sich nicht. Es ist gar nicht vorgesehen. Darin liegt das gewollt Plakative. Der Zuschauer jedoch versteht, welchen realen Zwängen und Fallen, aus denen es kein Entrinnen gibt, Ossi ausgesetzt ist. Die Personen sind modellhafte Figuren. Der Schauspieler ist nur ein Vermittler zwischen dem Spiel auf der Bühne und dem Zuschauer. Es ist eine indirekte Verteidigung eines Anderen, wenn der Autor Frieder Schuller die Ursachen des Geschehens in Grundzügen rekonstruiert und die historischen Vorgänge so ins Heute als erklärendes Lehrstück auf die Bühne bringt. Dem Zuschauer ist es selbst überlassen, die einzelnen Mosaiksteine der Szenen zusammenzufügen, um ein realistisches Bild der Zeit zu erhalten.
Man erinnert sich gerne an das Gedicht mit dem Titel „Verspäteter Schutzbrief für Oskar Pastior“, in dem der Nobelpreisträger Günter Grass 2012 seinen Dichterkollegen Pastior verteidigt. Den Kritikern wirft Grass vor, sich nur noch selbst unfehlbar gesehen und über Pastior den Daumen gesenkt zu haben. „Ich aber nehme Dich nun – verspätet, ich weiß – in den Arm; vielleicht gelingt es uns sprachlos zu weinen“, schließt das Gedicht.
Frieder Schullers Theaterstück ist eine vielschichtige, poetisch gelungene Umarmung und ein Stück Weltliteratur, dem man wünscht, in Zukunft auf vielen Weltbühnen gespielt zu werden.
Der Zufall wollte es wohl, dass 2020, in zeitlicher Nähe, zwei wichtige Publikationen als Hommage an Oskar Pastior erscheinen: „Ossis Stein“ von Frieder Schuller und der 7. Band der Werkausgabe Pastiors im Hanser-Verlag.