Es war eine Vernissage der besonderen Art, als am 7. Februar im Haus des Deutschen Ostens München die Retrospektive Sieglinde Bottesch eröffnet wurde. Brigitte Steinert, Stellvertretende Direktorin, begrüßte das äußerst zahlreiche Publikum, die Augsburger Pianistin Stephanie Knaur spielte virtuos und empfindsam Musikstücke von Domenico Scarlatti und Maurice Ravel. Der Verfasser dieses Beitrags hielt die Einführung zu den ausgestellten Werken und wies auch auf den grafisch exzellenten deutsch-englischen Katalog hin.
In dieser sorgfältig und wirkungsvoll präsentierten Werkschau wird schon beim ersten Rundgang deutlich, dass die in Ingolstadt lebende Künstlerin nicht mehr als „siebenbürgisch“ einzuordnen ist. Sieglinde Bottesch’ neuere Arbeiten, hier als repräsentative Suite, befinden sich nämlich auf einer ganz anderen geistigen und kreativen Ebene, als das, was manchmal sonst noch im schillernden Bereich der Entheimateten als schicksalsbezogene Thematik und Darstellung vorgeführt und in Gesinnungskreisen bewundert wird.
Bei einer nur geografischen Zuordnung, um hier einmal kurz diesen Aspekt anzusprechen, wäre z. B. Constantin Brâncuşi, der in Paris lebte und dort weltbekannt wurde, weiterhin ein oltenischer Künstler. Hans Mattis-Teutsch aber, einst Mitglied des „Blauen Reiter“, ebenso wie auch der seinerzeit in Paris gefeierte Henri Nouveau blieben Burzenländer Künstler, und Jacques Herold, der als Vertreter des phantastischen Realismus oft neben Salvador Dalí genannt wird, wäre dann immer noch, wie auch der Dadaismus-Begründer Tristan Tzara, ein moldauischer Künstler usw.
Sieglinde Bottesch hat das strapazierte, nostalgisch verbrämte Thema Heimat bzw. Heimatverlust – ausgehend von der an Pop-Art erinnernden Oralerotik –, in einer sehr eigenständig tiefsinnigen und gleichzeitig weitsichtigen Weise gestaltet, denkt man z. B. an die Arbeit „Grüße aus der Heimat“, die geradezu zur Kontroverse herausfordert. Denn der nur leicht geöffnete, grüßende „heimatliche“ Mund steht sinnbildlich in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Atem des Lebens, und er ist gleichzeitig auch ein gleichnishafter Hinweis auf die scheidende Macht des Geistes.
In dieser neuen kreativen Etappe hat die Künstlerin nun ihre natürliche Umwelt mit vieldeutigen, subtilen Details – die vielleicht für uns oft nicht wahrnehmbar oder nicht erkennbar und deutbar sind –, als feinsinnige Beobachterin sorgfältig erkundet, um dann den ausgewählten Wesen und Gefügen – wie Insekten, Larven, Samen, Fruchthüllen und -schalen –, einen neuen Namen zu geben. Sie hat, um es anders zu sagen, für die so entstandenen, künstlerisch neuerschaffenen Objekte auch eine neue Identität erdacht.
So schuf sie aus bekannten Materialien, wie Chinapapier und Gips, körperliche Formen und Gestaltungen, die man manchmal auch als biomorphe Skulpturen oder Schöpfungen einer sensitiven, poetischen Phantasie bezeichnen kann. Dadurch offenbart sich, wie Isabella Kreim schreibt, der „Ausdruck ihrer Ehrfurcht vor der Sinnlichkeit und Vielfalt, die die Natur hervorgebracht hat“. Und es offenbart sich auch, darf man hinzufügen, die verborgene Symbolik von zoomorphen und phytomorphen Kreationen, wie z. B. die Frucht, von einer Schale umgeben, ein Sinnbild verborgener Weisheit ist, während andere Früchte die Nähe zu Sinnlichkeit suggerieren, und die Wurzel auf die „Wurzel allen Seins“ verweist, die sich zum anschaulichen Stammbaum der Menschheit und des Glaubens verzweigt.
Man kann auch sagen, dass die geistigen Blumen der kreativen Erfindungsgabe und Einbildungskraft dieser Künstlerin oft seltsame Blüten treiben und uns Bezüge und Metamorphosen offenbaren, die man so vorher nicht kannte. Und die Samenkörner dieser phantastischen, in surreale Bereiche ragenden und doch eigenständigen Blüten öffnen uns dann Einsichten in eine noch unbekannte Welt von unerkannten Wesen. So verweisen die Arbeiten „Ein-Blick“, „Stachelige Frucht“, „Harte Schale – Weicher Kern“ oder „Gehäuse“, und „Frucht mit Kern“ suggestiv und anspielungsreich in geheime psychische Tiefen, in sogenannte Tabuzonen, könnte man sagen, in Bereiche ewiger Weiblichkeit, die sich in schlichten Naturformen, wie Früchte oder Fruchthülsen, verbergen und nun für unser Auge sichtbar werden.
Denn, „die Dinge sind ja da“, meint die Künstlerin. „Sie kümmern sich nicht um uns, aber da wir Menschen sind, und in den Dingen Chiffren oder Signale sehen, werden die Dinge zusätzlich zu dem, was sie sind, zu einem Ausdruck einer eigenen Befindlichkeit...“ Dadurch aber entstehen Formen, die sich in poetisch wirkenden Gebilden zu vieldeutiger Aussage vereinen, so z. B. im „Ei-Sprung“. Eine Arbeit, die „mit unendlich arbeitsreicher Sorgfalt“ aus Gips gestaltet wurde und die nun nach einer Feinpolierung mit einem Falzbein an glänzendes Elfenbein erinnert.
„Alles, was ich als Künstlerin mache, ist organisch“, definiert Sieglinde Bottesch konzis den Entstehungsvorgang ihrer Arbeiten, in denen sie „den Urformen der Natur nachspürt“ (Isabella Kreim). Als sie einmal im Frühjahr auf ihrem Balkon die Erde in einem Blumenkasten aufwühlte, entdeckte sie dort einen verborgenen Engerling, der sich noch im Winterschlaf befand. Er war von schlichter Schönheit und kann nun in seiner neuen Form – jedenfalls in der mythologischen Symbolik – auch als ein Sinnbild der Auferstehung und des Lebens gedeutet werden.
Damit öffnen sich uns Einsichten in eine geheime und geheimnisvolle Welt, die in Natur und Alltag um uns ist, die wir aber so noch nicht wahrgenommen und erkannt haben, wie sie sich in den Arbeiten „Vogel & Insekt“, „Häutung“, „Hülle mit Zeitzeichen“ und „Stille Wachstumsschübe“ offenbart. Es sind empfindsame, zerbrechliche Beziehungen zu einem stillen Geschehen im steten Wandel – ein Geschehen, das zart und feinsinnig beschrieben wird.
Die Künstlerin selbst definiert in einem Statement den schöpferischen Vorgang zu einem Werk, ausgehend von der „inneren Bewegung, dem Willen und Drang, eine Ausdrucksform zu finden. Das Sichtbare ist sodann nur die Brücke zum Eigentlichen, Wesentlichen und Unsagbaren, wonach sich die Arbeit am Werk aus sich heraus zu einem eigenständigen, lebendigen Prozess entwickelt.“
Abschließend heißt es dann wie in einem künstlerischen Credo: „Durch die Objekte suche ich die Ambivalenz, die in den Dingen enthalten sind, zum Ausdruck zu bringen“, da diese uns „durch ihren sinnlichen Reiz berühren, uns anrühren und in uns Assoziationen wachrufen können.“
So offenbaren sich diese teils kleindimensionalen Arbeiten als feinsinnige Deutungen unserer Gefühle und gleichzeitig auch als aphoristisch wirkende Objekte. Denn für Sieglinde Bottesch ist das Leben der Dinge „ein ständiges Kontinuum, und daher gäbe es auch für das schöpferische Sein des Menschen kein Ende“, und aus dieser kontinuierlichen Arbeit resultiere dann auch ein spirituelles „Kontinuum“ – daher der Titel der Ausstellung.