Kann Recht zugesprochen werden, wenn Erziehungsberechtigte einander zu gewollt friedlichem Kaffeeplausch treffen und Schlichtung ermöglichen wollen, nachdem zwei Jungen im quirligen Grundschulalter gestritten haben und der dabei beanspruchte Stock einem der beiden Raufbolde zwei Schneidezähne ausgeschlagen hat? Lägen keine Welten zwischen Wollen und Können, wäre Schuld im Nu beigelegt. Nur ist das 21. Jahrhundert Sprengsatz von Ungeschicklichkeit und zynischem Kalkül. Manche alten Wunden kann es nicht ausheilen.
Hierin versagen oftmals auch Bildungsbürgertum und Wohlstandsgesellschaft. Überall auf der Welt könnte die gute alte Streitkultur ein Auffrischen gebrauchen. 2001 hat Autorin und Französin Yasmina Reza in einem Interview für die „ZEIT“ ihren Riecher für Kommunikation erläutert: „Ich habe nie eine Heimat besessen. Mein Vater war Iraner, meine Mutter Ungarin, meine Großeltern liegen irgendwo in Amerika begraben, und ich lebe nun zufällig in Frankreich. Die einzige Heimat, die ich kenne, ist die französische Sprache“. Und: „Bei meiner Arbeit ist mir der Ton der Sprache weit wichtiger als ihr Inhalt.“
Fünf Jahre später trat Yasmina Reza mit dem Theaterstück „Le Dieu du carnage“ an die Öffentlichkeit. Uraufgeführt wurde es in deutscher Sprache am Schauspielhaus Zürich. Die Erstaufführung in Originalsprache folge Januar 2008 in Paris. Seit Übersetzung durch Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert tourt das wirklichkeitstreue Kammerspiel als „Der Gott des Gemetzels“ über deutschsprachige Bühnen und durch die Wahrnehmung einer Gesellschaft, deren Geschmack bestimmt von Ort zu Ort unterschiedlich ausfällt. Doch der Ausgangspunkt ist ein und derselbe. So auch in Hermannstadt/Sibiu, wo die deutsche Abteilung des Radu-Stanca-Theaters (TNRS) Samstagabend, am 25. Januar, zur Premiere der auf Rumänisch als „Zeul Carnagiului“ beworbenen Inszenierung in den Studio-saal auf der Rückseite des Ion-Besoiu-Kulturzentrums eingeladen hatte. Bogdan Sărătean führt Regie im Quadrat, dessen Facetten die Ehepaare Veronik und Michael sowie Annette und Andreas abstecken. Belangloses und Unsägliches schaffen sich Raum in diesem Personengeflecht, das sozialem Gebaren außerhalb der Theatermauern in nichts nachsteht.
Emöke Boldizsár und Daniel Bucher spielen die Eltern Veronik und Michael Meier, deren Bruno zwei Schneidezähne verloren hat. In ihrer Wohnküche entfaltet sich das anfangs gutwillige Gespräch und spätere Kopf-an-Kopf-Rennen mit Annette und Pharmakonzern-Anwalt Andreas Wagner, leibliche Eltern des schlagfertigen Ferdinand. Was Lausbuben untereinander nicht einvernehmlich bereinigen können, artet auch für ihre Eltern vom ersten gesprochenen Wort an zur Geduldsprobe aus. Der zwecks Begrüßung aufgetragene Nachmittagskuchen schmeckt da eher wie ein kalter Tropfen auf den heißen Stein. Trägerin der grauen Pelzjacke und des kniehohen Damenrocks aus der Garderobe Annettes ist Johanna Adam, an deren Seite Daniel Plier im feinen Firn auf dicke Hose macht und ausdrücklich spät Bereitschaft zum Mantelablegen und Platznehmen auf der Couch zeigt. Seine Faustregeln sind Verneinung von Verantwortlichkeit, Verharmlosung der Handgreiflichkeit Ferdinands und pausenlose Rufbereitschaft zu Dienstgesprächen am Smartphone, dessen Klingelton die Begegnung vielfach unterbricht. Ernsthaftigkeit im Anhören der Bitte auf Wiedergutmachung, noch dazu gepaart mit einem zu erwartenden Schimmer von Reue? Fehlanzeige! Im Theater passt die Rolle des korrupten Intellektuellen dem Honorarkonsul des Großherzogtums Luxemburg in Hermannstadt wie eine zweite Haut.
Änderungen von Namen aus dem original französischen Libretto tun nichts zur Sache. Zielführend nimmt sich dagegen die Kleidung der Eltern des Verprügelten aus: Haushaltswarenhändler Michael in Cordhose und gestreiftem Pulli und die freischaffend im Kultursektor tätige Veronik in bedrucktem Sweatshirt und abgewetzter Jeans ergeben ein Duo, das seinem Gegenüber unterliegen muss. Etwas ist dran an der Verknüpfung von Mittelstand und Opferrolle, von High Society und Ausbeutung. Früher hätte man gesagt, die Hautevolee missachtet ihre Ehrbarkeit. Heute schimpft es sich auf Geld, das die Welt regiert.
Die neueste Inszenierung der deutschen Abteilung am TNRS kürt keine Sieger. Der Augenblick unwiderruflichen Scheiterns wird von der Synopsis klar vorgegeben. Als Schaubühne für Experimente, es selbst geschickter anzupacken, kann nur das richtige Leben dienen. „Der Gott des Gemetzels“ löscht Durst mit Whisky, schüttet körperliche Hinterlassenschaften auf Kunst aus und verlacht Aufrichtigkeit. Nebenher bahnt sich das Risiko von Ehescheidung an. Veronik giftet Andreas an, entwickelt Hass auf Michael und sieht nicht ein, „warum man den zwischenmenschlichen Umgangston verkommen lassen sollte!“ Unter vier Personen ist sie die einzige, der Geschichten wie jene von Ritter Ivanhoe etwas bedeuten.
Tatsächlich kann die Welt von heute keinen Sir Wilfried of Ivanhoe, Michael Kohlhaas, Robin Hood und Klaus Störtebeker mehr gebrauchen. Zeiten solch ausgeprägter Härte liegen 500 Jahre zurück. „Es braucht eine gewisse Lehrzeit, bis man Gewalt durch Gerechtigkeit ersetzen kann“, spricht Rechtsanwalt Andreas altklug aus. Klar hat die Welt eine Menge dazugelernt. Aber den nimmermüden „Gott des Gemetzels“ braucht sie trotzdem nach wie vor als Gegengewicht. Um nicht zu vergessen, was ihr blüht, wenn gärendes Geifern nach Gerechtigkeit als irrelevant abgetan wird. Sich in Johann Sebastian Bachs berühmt schwebende „Air“ zu flüchten, die mehrfach durch Yasmina Rezas Meisterstück in der Hermannstädter Inszenierung tönt, kann den Zeitgeist kaum mehr bändigen.