Welcher Komponist schreibt Musikgeschichte und welcher nicht? Diese Frage ist nicht immer eine von Qualität, Einfluss oder Innovation der geschriebenen Musik. Manchmal ist es nur die falsche Identität, im falschen Land zur falschen Zeit, die es einem Komponisten unmöglich macht, seine Musik einem Publikum zugänglich zu machen. Die verfemte Musik in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts hinterlässt bis heute viele blinde Flecken in der Geschichte.
Auch das Leben und Schaffen des begabten Komponisten Philip Herschkowitz ist der seiner Zeit verschuldeten Bedeutungslosigkeit verfallen. Aus einer jüdischen Familie stammend, folgte in seiner Biografie eine Tragödie der nächsten. Er führte ein Leben auf der Flucht vor antisemitischen Übergriffen und ständiger Beobachtung der politischen Kräfte. Sein Ziel aber war es, Grenzen zu überschreiten und sich in der Musik die Freiheit zu holen, die ihm das Leben nicht bot.
Herschkowitz wurde 1906 in Jassy/Iaşi geboren und schloss schon als Zwanzigjähriger sein Studium an einem rumänischen Konservatorium ab. Fortan studierte er in Wien Komposition bei Alban Berg und Anton Webern. Beide Lehrer waren selbst Schüler von Arnold Schönberg, der Anfang des 20. Jahrhunderts eine Kompositionstechnik entwickelte, die alle bis dahin gekannten Regeln der Tonalität brach. Man nennt diese Musik daher atonal. Diese neue Richtung steht für den Expressionismus in der Musik. Ähnlich wie in der Kunst zeichnet sie sich durch eine starke Ausdruckskraft aus, die auch Abstraktes und Hässliches zur Schau stellt. Nicht selten wirken die Kunsterzeugnisse dadurch befremdlich und unverständlich.
Auch zu Herschkowitz´ Musik findet man keinen leichten Zugang. Doch was mag in dem Kopf eines ständig vertriebenen Juden vorgehen? Nachdem die Nationalsozialisten in Österreich an der Macht waren, musste Herschkowitz zurück in seine rumänische Heimat flüchten. Aber auch dort konnte er sich unter der Politik Ion Antonescus nicht aufhalten und wanderte in die Sowjetunion, genauer nach Czernowitz, aus.
Während des Krieges lebte er in Usbekistan und wünschte nach Kriegsende nichts sehnlicher, als nach Wien zurückzukehren. Dieser Wunsch wurde ihm erst in seinen letzten zwei Lebensjahren erfüllt. Durch den Kalten Krieg war der Musiktheoretiker gezwungen, zunächst in der Sowjetunion zu bleiben. Er entschied sich, nach Moskau zu ziehen, um sich dort als Kompositionslehrer und Komponist zu etablieren.
Die sowjetischen Kulturfunktionäre in Moskau, der Doktrin des „Sozialistischen Realismus“ folgend, verschmähten seine Musik und bezeichneten sie als „westlichen Formalismus“ und „volksfeindlich“. Aus dem sowjetischen Komponistenverband ausgeschlossen, musste der gescheiterte Komponist fortan vom Instrumentieren von Filmmusiken und privater Unterrichtstätigkeit leben. Herschkowitz lehrte in seiner Moskauer Wohnung namhafte sowjetische Komponisten wie Alfred Schnittke, Boris Tischtschenko und Sofia Gubaidulina die Zwölftontechnik Schönbergs und trug dabei entscheidend zur Verbreitung dieser, in der Sowjetunion verbotenen Musik bei.
Die einzige Aufführung seiner Kompositionen im Moskauer Exil fand 1960 statt und präsentierte zwei Liederzyklen nach Gedichten von Paul Celan und Ion Barbu. Stark an dem Gehalt der Gedichte orientiert, ist die Klavierbegleitung in diesen Liedern kein gewohnt fließendes Akkordband, sondern es ertönen punktuelle Klangereignisse, die auf Augenhöhe mit dem Ausdruck des Gesangs stehen.
Die Bandbreite der angewandten vokalen Techniken erstreckt sich vom Flüstern über den Schönbergschen Sprechgesang bis zu nahezu ariosen Passagen. Zu den expressionistischen Gedichten Paul Celans passt die Ästhetik Herschkowitz’ glänzend. Vielleicht weil sich ihre Biografien in vielem ähneln.
Doch bei der Liedvertonung des romantischen Liebesgedichts von Heinrich Heine „Wie des Mondes Abbild zittert“ wirken die Klänge im Gegensatz zur verliebt-schwärmerischen Poesie erschreckend kalt. Kaum eine Konsonanz ist in dem Zusammenspiel von Klavier und Gesang zu hören. Sind es nur unsere ungeübten Ohren, die sich nach ein paar Wohlklängen sehnen, oder hat der Komponist bewusst auf die Ästhetik des Schönen verzichtet? Ganz im Sinne Adornos, der meinte: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.“ Auf die Musik bezogen, hätte Adorno auch gut sagen können: „Nach Auschwitz noch eine Konsonanz zu komponieren, ist barbarisch.“ Vielleicht war der tragischen Figur des Herschkowitz nicht nach Melodien zum Mitpfeifen und Harmonien zum wohligen Einschlummern. Sein Leben kannte keinen strahlenden Durdreiklang.
Was sich Schönberg einst ausdachte, die Zwölftontechnik, und von dem er nach lebenslangen Anfeindungen konservativer Musikkritiker am Ende seines Lebens wieder abrückte, verinnerlichte Herschkowitz und gab der Idee eine neue Ausdruckskraft. Gegen alle politischen Kräfte setzte er seine Ideale durch, obwohl er es in seinem Leben als Komponist leichter Musik sicher einfacher gehabt hätte.
Mit diesem Los müssen Nonkonformisten nun aber leben: der Unpopularität. Ein Los, mit dem andere Künstler der Sowjetunion nicht leben wollten. Zeitlebens blieben Komponisten wie Schostakowitsch unverstanden und wurden als systemtreue Stalinfreunde im westlichen Ausland missachtet, weil sie zur Genugtuung der Obrigkeiten einfache Massenlieder schrieben. Doch die doppelbödigen Sinfonien und die einzigartigen Meisterwerke in der weniger beachteten Kammermusik, in denen er seiner Ausweglosigkeit Ausdruck verlieh, erhielten erst weit nach Schostakowitschs Tod die Aufmerksamkeit, die ihnen gebührte. Ob dem resistenten Philip Herschkowitz solch eine posthume Anerkennung noch zuteil wird, bleibt fraglich.
Die Stadt Wien war zeitlebens das Zuhause von Herschkowitz, nicht nur geografisch, sondern vor allem musikalisch. Der aus Rumänien stammende Komponist war ein Vertreter der Zweiten Wiener Schule, ob in Usbekistan, Czernowitz oder Moskau. 1987 erlaubte es die politische Lage endlich, dass der Exilmoskauer auch physisch in seine Wahlheimat zurückkehren durfte. Doch der damals 81-Jährige erkrankte wenige Monate nach seiner Einreise und starb zwei Jahre später an Nierenversagen. Seine Frau kümmerte sich nach seinem Ableben um die Herausgabe seiner musiktheoretischen Schriften. Die Musik Herschkowitz´ aber ist bis heute nicht verlegt worden.