Wenn unbegründeter Hass Seelen zerstört

„Literatur für eine bessere Welt“ – sieben Bücher und eine spannende Diskussionsrunde zum Thema Mobbing

Draußen pfeift ein eisiger Wind, als wir nach und nach eintreffen, die dicken Mäntel in die Ecke legen, uns am runden Tisch versammeln – gerade so viele, dass jeder mitdiskutieren kann. In entspannter Atmosphäre, bei warmem Licht. Helle Fensterfronten, urgemütliche Sitzgruppen, Bücherregale. Um Bücher geht es heute an diesem 29.-November-Mittwoch in der Bibliothek des Bukarester Goethe-Instituts, um „Literatur für eine bessere Welt“. Sieben Bücher, zwei Experten, viele Meinungen – und eine gewagte These...

Den Titel müsste man eigentlich mit einem Fragezeichen versehen, leitet Moderator Dr. Joachim Umlauf, Direktor des Goethe-Instituts, die Diskussionsrunde ein. Es ist das erste Treffen im Rahmen der neuen Event-reihe ADZ/Goethe-Institut „Literatur für eine bessere Welt“: Die Idee wurde aus der Reihe „Wertvolle Jugendbücher“ geboren, die Romane für Jugendliche aus der Bibliothek des Goethe-Instituts zu gesellschaftsrelevanten Themen in der ADZ präsentiert. Denn beim Lesen solcher Bücher erkennt man schnell, dass fiktive Literatur im Vergleich zum Sachbuch eine einzigartige Chance bietet: Man schlüpft in die Haut des Haupthelden für eine Fahrt durch ein fremdes Leben – mal als afghanischer Flüchtlingsjunge, mal als Mädchen aus dem Heim, mal mit Gewalt, Adoption, Autismus, Fremdenhass oder dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert... Man erlebt durch die Augen des fiktiven Helden, dem Erlebnisse authentischer Zeitzeugen auf den Leib geschrieben wurden. Man fühlt mit ihm, lacht mit ihm, zittert und bangt mit ihm - und wenn man das Buch ausgelesen hat, bleibt ein Funken von ihm in einem zurück. Was wir dabei lernen, ist immer dasselbe: Empathie mit Menschen, die anders sind.

Eine gewagte These

Aber... ist Empathie nicht genau das, was die Welt am meisten braucht? Ein Blick über die Landesgrenze: Dort wütet ein Krieg, weil ein machthungriger Diktator das Land überfallen hat, für sein eigenes und das andere Volk unsägliches Leid geschaffen - ein eklatantes Beispiel für fehlende Empathie. Auch Mobbing, das Hauptthema unserer heutigen Diskussion, gäbe es nicht, wenn alle Beteiligten empathisch wären. Und selbst wenn sich mit Empathie nicht alle politischen Probleme lösen lassen, macht sie unsere Welt doch erträglicher – und damit besser.

Strategien gegen Mobbing

Literatur kann dies auf spannende Weise vermitteln. Aber auch Filme, Theater oder Gewaltpräventionsprogramme in Kindergarten und Schule - je früher, desto besser. Denn Mobbing oder Bullying, so das Ergebnis der jüngsten Studie der NGO „Salva]i Copii“, beginnt bereits im zarten Alter: Unter rund 4500 befragten Schülern zwischen 10 und 18 Jahren waren fast 50 Prozent schon einmal Opfer, 27 Prozent selbst Aggressoren, 8 von 10 zumindest Beobachter. Der Unterschied zwischen Mobbing und Bullying ist fließend: bei ersterem geht es eher um psychischen Druck, ausgeübt von einer Gruppe auf ein Opfer, dies über längeren Zeitraum; bei letzterem überwiegt das Element der Gewalt oder Drohung.

Wir nähern uns dem Thema anhand von sieben Büchern, die Jonas Kling in einer Powerpoint-Präsentation vorstellt (siehe auch Kulturseite der ADZ vom 27. Oktober), ab sofort auszuleihen in der Goethe-Bibliothek. Für die Diskussion wurden eingeladen: die Sozialpädagogin Hellvy Bäcker von der Deutschen Schule Bukarest und die rumänisch-deutsche Dramatikerin Elise Wilk, in deren Theaterstücken für Jugendliche Mobbing, Bullying oder Ausgrenzung „irgendwie immer eine Rolle spielen“, wie sie sagt. Bietet das Auseinandersetzen mit literarischen Texten tatsächlich andere Möglichkeiten, sich dem Thema zu nähern als zum Beispiel in sozialen Medien? „Ja - und im Theater ist der Effekt sogar noch stärker“, bekräftigt Wilk. „Denn ein Buch kann man weglegen, doch im Theater sieht man alles auf einmal in anderthalb Stunden, man fühlt intensiv mit den Figuren, oft wird anschließend noch darüber diskutiert – man geht ein bisschen anders nachhause, als man gekommen ist.“ Kann Theater die Welt verändern? „Ein bisschen schon“, meint Wilk, „denn wenn die Menschen sich verändern, wird auch die Welt ein wenig anders.“

Eine andere Form der Prävention von Mobbing, Bullying und Ausgrenzung ist die Erziehung zur gewaltfreien Kommunikation, wie sie an der Deutschen Schule Bukarest (DSBU) angeboten wird. „Der These, dass Empathie diese Probleme lösen könnte, stimme ich auf jeden Fall zu“, sagt Sozialpädagogin Hellvy Bäcker. „Denn Menschen, die mit sich im Reinen sind und auch mit ihren Schwächen umgehen können, würden keinen Krieg beginnen.“ An der DSBU wird daher schon in der Grundschule im Programm „Faustlos“ gewaltfreie Sprache vermittelt: Giraffensprache versus Wolfssprache. „Giraffen sind soziale Tiere, sie haben flache Hierarchien“, erklärt Bäcker den Symbolismus. Eine „Giraffe“ würde sagen: Ich bin jetzt wütend und brauche Abstand, ich gehe jetzt erst einmal raus und komme dann wieder, um darüber zu sprechen.

Mobbing im anonymen Raum

Für ältere Kinder im Gymnasium erklärt eine Anwältin die strafrechtlichen Konsequenzen von Cybermobbing. Denn auch das Internet ist kein strafrechtsfreier Raum, so Bäcker. „Wir hatten sogar vor Kurzem einen Cybermobbing-Fall an der Schule. Es ging um Social Media. Bestimmte Schüler hatten genug Vertrauen und haben uns das schnell mitgeteilt. Wir haben dann mit der rumänischen Polizei zusammengearbeitet.“ Die Polizei hat anschließend in der Aula der Schule eine Aufklärungsveranstaltung durchgeführt. Leider seien die Chancen einer Strafverfolgung mit gerichtlicher Verurteilung meist gering, meint Bäcker, „doch das Profil wurde gelöscht, das war zumindest ein Erfolg.“ Wichtig sei der Schulleitung, zumindest deutlich klarzumachen, „dass wir sowas nicht dulden, dass sie sich (die Täter) nicht sicher fühlen können, dass es uns interessiert“.

Beim Cybermobbing kommt im Vergleich zur realen Konfrontation noch eine andere Qualität dazu: Es findet allgegenwärtig im Netz statt und ist  manchmal nicht mehr zu entfernen. Der Gemobbte kann nicht einfach den Ort oder die Schule wechseln.

Die Anonymität der sozialen Medien erleichtert solche Angriffe, denn man wird nicht mit der Reaktion des Opfers konfrontiert. Häufig sei Kindern im Augenblick des Eintippens auch nicht voll bewusst, was sie anrichten, – „im Nachhinein aber schon“, meint Bäcker.

Ähnlich verhält es sich mit Hassreden im Netz, setzt Joachim Umlauf fort: „Antiislamismus, Antiziganismus lebt von Räumen, wo sich Leute im Rahmen einer Gruppe treffen, die sich im Netz sicher fühlen, denn man wird nicht im eigenen Umfeld denunziert“. Ähnliche „sichere Räume“, in denen anonym und entsprechend ungehemmt kommuniziert wird, sind Innenwände öffentlicher Toiletten. Wo aber der direkte Kontakt fehlt, steigt auch die Gewaltbereitschaft. Vor allem nach der Corona-Pandemie sei an der Schule ein starker Anstieg an Gewaltvorfällen festgestellt worden, so Bäcker. Die lange Isolation hat den Konsum an Ballerspielen und entsprechenden Filmen erhöht.

Empathie versus Polarisierung

Anonyme Räume erleichtern das Ausleben extremer oder gewaltsamer Phantasien. Empathie ist dort weder vorhanden noch wirklich erforderlich. Das Internet potenziert die Gefahr durch die Möglichkeit der schnellen Verbreitung. Mit kurzen, meist stark emotionalisierten Informationen auf sozialen Medien wird eine echte Diskussion mit der Option, die eigene Meinung auch mal zu hinterfragen, immer unwahrscheinlicher. So haben soziale Medien das Potenzial, die Gesellschaft eher zu spalten, vor allem bei schwierigen Themen, etwa dem aktuellen Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. „Hinzu kommt, dass wir in einer Zeit mit extrem tribalem, nationalistischem Denken leben“, gibt Joachim Umlauf zu bedenken und nennt Rhetorik-Beispiele: „Das Boot ist voll, da kommt kein Migrant mehr rein“ (EU), oder „America first!“

Literatur kann das Problem zwar nicht lösen, aber zumindest die Perspektive verändern: So verdeutlicht der Jugendroman „Das Schicksal der Sterne“ (Seite 9)von Daniel Höra die Ähnlichkeiten der Flüchtlingsgeschichten zwischen dem jungen Afghanen Adib und dem Rentner Karl, der im Zweiten Weltkrieg aus Schlesien vertrieben wurde. Wir stellen uns die Frage: Gäbe es einen Roman, der die Sicht eines Israelis und eines Palästinensers auf ähnliche Weise gegenüberstellen würde - könnte das Erkennen von Gemeinsamkeiten in den „Gegnern“ und das Mitgefühl mit den Romanhelden etwas an der aktuell sehr polarisierten Meinung der Gesellschaft ändern?

Immer wieder gleiten wir vom eigentlichen Thema ins Weltgeschehen ab: Gaza-Krieg, Flüchtlinge nach Eu-ropa, die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung... Oder reflektieren diese Geschehen eine Art „Mobbing“ auf globalem Niveau?

Das Geschehen in Worte fassen

Lesen transformiert durch Bewusstmachen. Wichtig ist aber auch das In- Worte-Fassen. Denn Mobbing kennen wir eigentlich alle von früher. Nur den Begriff gab es noch nicht – und daher auch keine Diskussion. Elise Wilk gibt Erinnerungen aus der Schulzeit zum Besten. „Ich erinnere mich sehr gut an zwei Kollegen, die gemobbt wurden, nur weil sie von einer anderen Schule kamen. Ich habe aber auch erlebt, dass Lehrer Schüler mobben, aber das erst später so erkannt. Unsere Lehrerin aus der Klasse 1 bis 4 hat viele von uns gemobbt“, fügt sie an.

Auch die Schuldfrage habe sich ihr erst viel später gestellt: „Wir haben zugeschaut und haben nichts gemacht. Ich dachte damals, wir sind nicht schuldig. Aber später habe ich einen Film gesehen über Mobbing. Da habe ich gemerkt, auch wenn man zuschaut und nichts tut, ist man schuld.“ Was sie in ihren Theaterstücken auch unterstreicht, ist, dass  Schüler, die mobben, nicht unbedingt Monster sind. „Sie wollen Aufmerksamkeit. Ein glückliches Kind tut so etwas nicht. Man müsste auch für sie Empathie haben... und an Schulen viel mehr darüber reden.“

„Wir haben als Schüler auch Lehrer gemobbt“, erinnert sich Joachim Umlauf. Und auch an das begleitende Unbehagen: „Man müsste eigentlich von jemandem erklärt bekommen, was man da macht.“

Keine Bagatelle

Dass Mobbing keine Bagatelle ist, zeigt der jüngste Selbstmord zweier Jugendlicher in Frankreich, verweist Umlauf. Hellvy Bäcker fügt an: In Niedersachsen sind Sozialarbeiter an Schulen Pflicht, seit die Statistik der Suizide im Schüleralter hochgeschnellt sei.  

Die Wirkung und vor allem Gruppendynamik des Mobbings verdeutlicht eindrucksvoll das Buch „Unsichtbare Wunden“ von Astrid Frank: Zwei, drei Personen sind Hauptakteure kleiner, fortgesetzter Bosheiten gegen die 13-jährige Anna. Die übrigen Kinder lachen mit oder grenzen Anna passiv aus. Die Mitläufer stärken ihre Position in der Gruppe. Die Unbeteiligten trauen sich nicht, einzugreifen, aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden. Anna wird zur Nicht-Person, die Kommunikation mit ihr zum Tabu. Hinzu kommt die Ignoranz der Lehrer: Immer wenn Anna dabei ist, gibt es Schwierigkeiten, heißt es. Selbst als Ausgrenzung und Druck unerträglich werden, hat Anna nicht den Mut, den Vater einzuweihen.

Wie im Roman versuchen Opfer häufig, das Problem vor den Eltern zu verheimlichen. Eine Rolle spielt dabei auch die – selbst von Erwachsenen häufig unterstützte  – Auffassung, „Verpetzen“ sei eine verabscheuenswürdige Tat.

Ob es in ihren Theaterstücken einen Lösungsansatz gibt, wird Elise Wilk gefragt. Die Dramatikerin, deren Stücke in 13 Sprachen übersetzt und weltweit mit großem Erfolg aufgeführt werden, verneint. „Theater muss sensibilisieren - die Lösung finden dann die anderen. Ich bin für ein Theater, das Fragen stellt.“ Nachdenklich fährt sie fort: „In Schulen lädt man Psychologen ein und man spricht mit den Kindern über Mobbing. Aber ich glaube, wenn sie vorher Bücher lesen oder ein Theaterstück oder einen Film sehen und dann darüber sprechen würden, wäre der Effekt noch viel, viel größer. Leider passiert an unseren Schulen nicht so viel in dieser Richtung.“


Mobbing – Info und Hilfe

Ein sehenswerter Film über Cybermobbing ist „Netzangriff“ von SWR Plus, auf YouTube (www.youtube.com/watch?v=3mdgneP5iwE)

Mehr über Mobbing und Gegenstrategien erfährt man auf der Webseite der NGO Salva]i Copiii: scolifarabullying.ro

Dort gibt es auch eine interaktive Karte, die gemeldete Mobbing- bzw. Bullyingfälle in Schulen im ganzen Land anzeigt bzw. die Möglichkeit bietet, selbst einen Fall zu melden.

Betroffene Kinder und Jugendliche finden Rat beim Kindertelefon (telefonulcopilului.ro/): Die Nummer 116 111 kann kostenlos angerufen werden. Das Beratungsgespräch bleibt auf Wunsch anonym und es ruft garantiert niemand zurück.

Die Webseite des Kindertelefons informiert auch über Cyberbullying: telefonulcopilului.ro/proiecte/becybersafe/