Am 11. Juni 2008 starrten nicht nur die Bistritzer Bürger, sondern Siebenbürger Sachsen aus aller Welt - Rumänien, Deutschland, Österreich, Kanada, USA, Australien – von ihren Bildschirmen traumatisiert in die lodernden Höllenflammen, die den Turm ihrer geliebten Kirche, Wahrzeichen des Nösnerlands, gierig umschlangen und das stolze Juwel dieser Stadt schwer beschädigt zurückließen. Eine klaffende, offene Wunde, 15 Jahre lang, auch in den Herzen der Menschen...
„Mit einem Mal waren 70.000 Euro den Bach hinuntergegangen“, erinnert sich Dr. Hans Georg Franchy, Leiter der Heimatortsgemeinschaft Bistritz-Nösen, die sich schon seit 2004 für die 1991 begonnene Restaurierung der evangelischen Kirche engagiert hatte. Umso mehr dann nach dem Brand: drei neue Glocken wurden gegossen, denn die alten waren geschmolzen, das Mauerwerk repariert, der Renaissanceturm neu rekonstruiert, die Sakristei und beide Pfarrergestühle restauriert. „Über eine halbe Million Euro haben wir seit dem Brand nach Bistritz gebracht“, alles aus Spenden der Mitglieder des inzwi-schen eingetragenen Vereins, dessen Leitung Hans Franchy von seinem älteren Bruder Kurt Franchy, der vor der Auswanderung Pfarrer in Bistritz war, 2005 übernommen hatte.
Der heutige Stadtpfarrer, Johann-Dieter Krauss, gesteht mit Tränen in den Augen: „Ich dachte damals, es würde mehrere Generationen dauern, das alles wieder herzurichten.“ Nur wenige waren am Sonntag, dem 14. Mai, zu später Stunde noch zugegen, um seine bewegende Dankesrede zum Ausklang des Treffens der Nordsiebenbürger Sachsen zu vernehmen. Die Botschaft an seine hierfür angereisten Landsleute: „Dank euch waren wir nicht allein!“ Gott hat viele Fäden zusammengefügt und „das Wunder möglich gemacht“.
Historische Wunden heilen
Samstag, 13. Mai 2023. Tag der Heilung: Goldene Engel erklimmen in luftiger Höhe den prachtvollen Orgelprospekt, dazu das Halleluja des menschlichen Engelschors in weißen Kleidern mit blauen Schleifen. Auf der Treppe links vor dem Altar, ausgetreten von jahrhundertelang auf und abschwebenden Füßen ihrer Eltern, Großeltern, Ahnen und Urahnen, singen sie sanft und leise, sehen mit jungen, staunenden Augen, wie sich die alte Kirche wieder füllt, immer noch quellen Menschen herein, ergießen sich auf die Emporen, wuseln in Trachten und mit Handysticks bewaffnet unter den gütigen Blicken des vor dem Altar verewigten Reformators. Ob Martin Luther jetzt ein wenig schmunzelt? Nur wenige finden noch sitzend im Kirchenschiff Platz, unter den leuchtenden Repliken der prachtvollen osmanischen Teppiche aus dem 16. und 17. Jh. - 21 von insgesamt 54 Originalen, die sich heute mit dem übrigen Bistritzer Kirchenschatz im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg befinden. 1944 wurden der Schatz von der deutschen Wehrmacht beim Rückzug vor der nahenden Ostfront, als auch die Nordsiebenbürger Sachsen zur Flucht „Heim ins Reich“ genötigt wurden, in den Westen „gerettet“... Heute gibt es in den Reihen der Bistritzer Rumänen Stimmen, die meinen, dass er zurückgebracht werden müsste.
Von diesen und anderen Wunden der Geschichte flüstern die steinernen Wände, vor vier Jahren, zum Sachsentreffen 2019, noch von staubigen Planen verhangen: Vom Auswandern, Rückkehren und Hierbleiben, von Verschleppung und Zwangsarbeit, von Enteignung, Unfreiheit und Freikauf, vom Getrenntsein über Ländergrenzen hinweg, vom Sich-Wiederfinden, sich neu Erfinden und gemeinsamem Handeln nach dem schrecklichen Brand. Und von den Weggefährten, denen man gar nicht genug danken konnte in all den Reden um das vollbrachte Wunder der Restaurierung und Wiedereinweihung des Juwels von Bistritz nach 15 Jahren. In seinem dreifachen Dank betont Rainer Lehni, Bundesvorsitzender und Präsident der Föderation der Siebenbürger Sachsen: Ohne die Stadtverwaltung Bistritz – insbesondere Altbürgermeister Ovidiu Crețu und Bürgermeister Ioan Turc – und ihre Weitsicht wäre diese Renovierung nicht möglich gewesen. Aber auch nicht ohne den Mut der Kirchengemeinde Bistritz, die den „Schritt der pachtweisen Übergabe dieser großen Kirche an die Stadtverwaltung mitgegangen ist, wohlwissend dass ihre eigenen Kapazitäten für dieses Megaprojekt nicht ausreichten – weder personell noch finanziell“. Und erst recht nicht ohne die HOG Bistritz und Hans Georg Franchy, „die immer daran geglaubt haben, dass dieses Projekt abgeschlossen werden wird und es von Beginn an tatkräftig unterstützten“. Nach dem schrecklichen Brand sei nun die Freude umso größer, „dass der Kirchturm mitsamt der ganzen Kirche wieder wie Phönix aus der Asche gestiegen ist“.
Vereint in der alten Heimat
Neben zahlreichen Gästen aus Rumänien sind rund 200 Nordsiebenbürger Sachsen aus Deutschland und Österreich angereist, schätzt Dr. Franchy. Im festlichen Trachtenzug defilierten sie trotz Kälte und Regen durch die Innenstadt zur Kirche, wo der Bauleiter der Restaurationsfirma den Schlüssel feierlich an den Stadtpfarrer übergibt.
Die Wiedereinweihungszeremonie vollzieht Bischof Reinhart Guib von der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien. Die Predigt hält Stadtpfarrer Johann-Dieter Krauss, assistiert von Würdenträgern der evangelischen Kirche und Pfarrern aus Siebenbürgen, musikalisch begleitet von Organist Steffen Schlandt und dem Kronstädter Bachchor, der nach dem Brand als allererstes durch Deutschland tourte, um Geld für die Restauration zu sammeln, wie Franchy erzählt. Töne der Freude lösen sich aus silbernen Orgelpfeifen und kaum jemand merkt, dass die Restaurierung der wertvollen Prause-Orgel in der Hektik der letzten Tage nicht ganz abgeschlossen werden konnte...
Unter den Ehrengästen weilen: Präsidialberater Sergiu Nistor, der parlamentarische Abgeordnete der deutschen Minderheit, Ovidiu Ganț, der Vorsitzende des Demokratischen Forums der Deutschen in Rumänien, Dr. Paul-Jürgen Porr, der Bundesvorsitzende und Präsident der Föderation der Siebenbürger Sachsen, Rainer Lehni, der Bundesobmann des Bundesverbands der Siebenbürger Sachsen in Österreich, Konsulent Manfred Schuller, die Vorsitzende des Verbandes der Siebenbürgisch Sächsischen Heimatortsgemeinschaften, Ilse Welther, der Unterstaatssekretär im Departement für interethnische Beziehungen (DRI), Thomas Șindilariu. Seitens der Stadt sind Bürgermeister Ioan Turc und sein Vorgänger Ovidiu Crețu, der sich stark für die Beschaffung von EU-Geldern eingesetzt hatte, vertreten. Sie feiern zudem am 13. und 14. Mai das Treffen der Nordsiebenbürger Sachsen mit, das die HOG Bistritz-Nösen mit dem Bistritzer Deutschen Forum organisierte. Geboten wurde ein umfassendes Kulturprogramm mit Blaskapellen aus Bistritz, Drabenderhöhe (Deutschland) und Traun (Österreich) und Tanzgruppen aus Sächsisch-Regen/Reghin, Schäßburg/Sighișoara, Bistritz und Wels (Österreich). Zu den Highlights der gemeinsamen Veranstaltung mit der Stadt zählten ferner eine Operngala im Kulturhaus, Orgelkonzerte von Erich Türk und Eduard Antall, die „weiße Nacht der evangelischen Kirche“ mit Musik bis Mitternacht und historischen Nachstellungen, Blasmusik- und Jazzkonzerte, Führungen durch Kirche und Stadt, Fachvorträge und Präsentationen zu den Herausforderungen der Restauration.
Knochenfunde, Grabsteinsplitter, Stadtpatriziat
Im Vorfeld wurde am Freitag, dem 12. Mai, ein ganztägiges Symposium rund um die Restaurierung der Kirche im Rathaus abgehalten, mit zahlreichen kollateralen Themen: die wissenschaftliche Erforschung der entdeckten zehn Skelette und zahlreichen Funde von Knochen- und Grabsteinfragmenten mit Inschriften in deutscher Sprache, von denen man sich Aufschluss über frühe Bistritzer Familien erwartet; die weitere Stadtplanung rund um die restaurierte Kirche; besondere Herausforderungen bei der Restauration... In verschiedenen Städten sei eine Kirchenrestaurierung Motiv für Neugestaltung des Platzes und der umliegenden Gebäude gewesen, so soll auch hier das historische Zentrum wiederbelebt und touristisch in Szene gesetzt werden.
Architekt Prof. Dr. Virgil Pop weckte in einem amüsanten Vortrag Sensibilität für eine „Unsitte“ unserer umweltbetonten Zeit: die „Bewaldung“ des einstigen Marktplatzes, die eine Nutzung als solchen verunmögliche und die historischen Fassaden des Sugălete-Gangs völlig verdecke.
Der Historiker Konrad Gündisch beschäftige sich mit der Frage, wer im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit den Bau, den Unterhalt und die Ausschmückung der Bistritzer Stadtpfarrkirche finanzieren konnte und wies auf das Bistritzer Stadtpatriziat hin, das über die erforderlichen Mittel und auch über die Macht verfügte. Er griff das Beispiel zweier Familien heraus, die über mehrere Generation im Stadtrat vertreten waren, oft überdies als Oberrichter: Die Gräfenfamilie Geubul, deren Reichtum im 13. bis 14. Jahrhundert vor allem auf Grund- und Immobilienbesitz beruhte, und die Unternehmerfamilie Kretschmer, die im 15. bis 16. Jahrhundert ihren Besitz durch Handel und Investitionen in die Rodenauer Silbergruben mehren konnte.
Thomas Șindilariu präsentierte die Ausstellung des DRI über Zeugen historischer Epidemien in Rumänien und ihren Einfluss auf die Entwicklung von Minderheitensprachen (siehe ADZ vom 3. März 2023: „Der schwarze Tod kennt alle Sprachen“) und verwies auf Bezüge nach Bistritz.
Osmanische Teppiche: „Gäste aus einer anderen Welt“
Ein besonders Highlight war der lebhafte Vortrag von Stefano Ionescu über die osmanischen Siebenbürgen-Teppiche, als solche in ganz Europa berühmt und bekannt, die in zahlreichen evangelischen Kirchen hängen. Die überaus wertvolle Sammlung von Bistritz, leider im Zustand fortgeschrittener Degradation und außerdem in Deutschland, werde nur von der in der Schwarzen Kirche in Kronstadt/Brașov übertroffen. Daher habe man entschieden, mithilfe der HOG Bistritz-Nösen Repliken anzufertigen, die dann – im Gegensatz zu den Originalen – auch an den Wänden hängen dürfen. Der in Rom lebende Ionescu – als Ingenieur eigentlich fachfremd, aber mittlerweile Experte von Weltruf und zusammen mit Corneliu Gaiu Verfasser des Werkes „Orientteppiche der evangelischen Kirche A.B. in Bistritz“ – vertritt übrigens die These, dass die damals in Siebenbürgen hochbeliebten Teppiche im Zuge der Reformation als Spenden von Gläubigen und Zünften in evangelische Kirchen gelangten.
Frei von zoomorfischen oder menschlichen Darstellungen – denn ursprünglich handelte es sich um islamische Gebetsteppiche, bis der Sultan den Verkauf von Teppichen mit explizit religiösen Darstellungen (Korantexten oder der Kaaba) an „Ungläubige“ per Edikt verbot – entsprachen sie mit ihren abstrakten und floralen Ornamenten dem Zeitgeist der Reformation. Seine These unterstützt die Tatsache, dass auf manchen Teppichen Fragmente von deutschen Inschriften und Widmungen gefunden wurden.
Hergestellt wurden die Teppiche von osmanischen Frauen, niemals von Meistern in Werkstätten, mit Mustern aus der familiären Erinnerung, über Generationen weitergegeben, ursprünglich als Aussteuergaben. „Gäste aus einer anderen Welt“, bemerkt Ionescu ehrfürchtig. Die Repliken in Bistritz, aus handgesponnener Wolle und mit natürlichen Farben, wurden in der Türkei in Sultanhani gefertigt.
Das Wunder in der Tragödie
Dass der Brand nicht die ganze Kirche erfasst hat, war mehr als überraschend, betont Bischof Guib. Gottes Wunder - oder Geistesgegenwart des Stadtpfarrers, der den Feuerwehrleuten nahelegte, das Dach von innen statt von außen zu löschen? Und ist es nicht auch ein Wunder, dass die schleppend begonnene, von allerlei Schwierigkeiten geprägte Restauration nach 2008 auf einmal Fahrt aufnahm? Dass die Kirche 2013, zum 450-sten Kirchweihjubiläum, zum Schauplatz einer einzigartigen Initiative wurde, der Unterzeichnung der „Bistritzer Erklärung zur ökumenischen und brüderlichen Zusammenarbeit“ der historischen Kirchen in Siebenbürgen? Dass heute ein moderner Lift Touristen aus aller Welt auf den höchsten mittelalterlichen Kirchturm Siebenbürgens führt, für einen atemberaubenden Blick von der „Perle“ auf das weite, grüne Nösnerland?
Vor dem Altar erhebt der Bischof beide Hände. Und die Wunde des Infernos vom 11. Juni 2008 heilt in diesem Augenblick. Wackersteine poltern von Herzen. Die Kirche atmet wieder Leben.