Wie kann man Kinder am besten auf das Leben vorbereiten? Ihnen Kreativität entlocken, ihre Flexibilität fördern, sie zum Teamwork anleiten. Ihnen vermitteln, präsent zu sein, zu leben, motiviert zu sein und ihr Bestes zu geben. Hand aufs Herz: Viele Erwachsene schaffen dies nicht mal selbst. Dabei kann man es spielend lernen, davon ist die österreichische Schauspielerin Sylvia Rotter fest überzeugt: Theater spielend!
Seit über zehn Jahren leitet die Wienerin ein ehrgeiziges Projekt in Rumänien: „Teatrul vienez de copii“ (www.teatrulvienezdecopii.ro) – das Wiener Kindertheater. So nennt sich die NGO, die mittlerweile mehrere Aufgaben umfasst, die weit darüber hinausgehen. Ihr Herzstück ist das Theaterprojekt, bei dem Kinder zwischen fünf und 18 Jahren jedes Jahr ein Bühnenspiel einstudieren und im Herbst öffentlich aufführen. Bewusst werden darin Kinder unterschiedlichen Alters kombiniert, was zu urkomischen Momenten führt. Die Aufführungen des Wiener Kindertheaters sind nicht nur für die Kleinen ein Riesenspaß. Auch Erwachsene kommen auf ihre Kosten.
Doch das vordergründige Ergebnis – eine bühnenreife Aufführung - ist eigentlich nur der Nebeneffekt, verrät Sylvia Rotter. Vielmehr geht es um die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder durch Stimulation von motorischen, sozialen und intellektuellen Fähigkeiten. „Schauspiel bietet die beste Gelegenheit dafür, denn Motorik und Gehirnentwicklung hängen eng zusammen“, verweist sie auf den Neurobiologen Prof. Manfred Spitzer, der das Kindertheater fachlich betreut.
„Absolut außergewöhnlich“
„Diese Institution ist absolut außergewöhnlich“, schwärmt Isabel Rauscher, österreichische Botschafterin in Bukarest, auf ihrem Empfang zur Unterstützung des Wiener Kindertheaters am 7. März in ihrer Residenz. Dort hat das Projekt vor elf Jahren begonnen. Monica Puiu - Mutter zweier Kinder, die in den Genuss der Schauspielschule kamen, heute flammende Ünterstützerin von Sylvia Rotter - erinnert sich: 2007 hatte der österreichische Botschafter eine Handvoll Mütter versammelt und ihnen die Idee vorgestellt. „Ich sagte mir damals: Das ist die Chance, meinen Sohn vom Computer wegzulocken, wenigstens zweimal die Woche für jeweils zwei Stunden.“ Lachend gesteht sie: „Ich habe ihn erpresst! Du machst mit, wenigstens für ein Jahr. Danach kannst du wählen.“ Die erste Aufführung rührt sie immer noch zu Tränen. Zu groß war die Veränderung, die sie an ihrem Sohn bemerkte. „Aber es ging nicht nur um ihn. Was diese Kinder leisteten, war absolut unglaublich!“
Doch von den Methoden der Theaterlehrer profitieren nicht nur Kinder. Weil Puiu für die Weihnachtsfeier in ihrer Firma etwas besonderes planen wollte, überzeugte sie ihren Chef, die Trainer des Wiener Kindertheaters zu engagieren, um ein Bühnenstück vorzubereiten. Dafür wählte sie selbst die unauffälligsten, schüchternsten Mitarbeiter als Protagonisten aus. Und war begeistert: „Sie standen vor 200 Kollegen auf der Bühne. Es war ein unglaublicher Erfolg. Urkomisch! Buchhalter, die sonst keiner beachtete, waren auf einmal die Stars der Firma.“
Auch ein ehemaliger Schüler des Kindertheaters kommt zu Wort. Er begann 2009, mit 13 Jahren, heute lebt der junge Mann im Ausland. Anerkennend fasst er die Bemühungen der Theaterlehrer zusammen: „Diese Leute haben den Wunsch, in der jungen Generation etwas zu verändern – um ein anderes, ein ehrlicheres Rumänien zu schaffen. Ein Rumänien, in das ich gerne zurückkehren und das ich mitgestalten möchte.“
Für eine nachhaltige Veränderung
Rumänien verändern – klingt dies nicht sehr ehrgeizig für ein Projekt mit ein paar hundert Kindern? Doch hier kommt die zweite Komponente ins Spiel, verrät Sylvia Rotter: die Bildungsinitiative der NGO. Sie begann 2014 und erreichte seither an die 15.000 Schüler. Erklärtes Ziel ist, ein Netzwerk aus Lehrern, Neurologen und Hirnforschern im ganzen Land aufzubauen, um die Methoden des spielerischen Lernens zu verbreiten. Dies geschieht in Workshops und Konferenzen, die bereits in Bukarest (2014), Klausenburg/Cluj-Napoca und Hermannstadt/Sibiu (2015), Temeswar/Timișoara und Kronstadt/Brașov (2016), Großwardein/Oradea und Bacău (2017) und Baia Mare stattfanden und sich speziell an Pädagogen richten. „Kern unserer Arbeit ist, Lehrenden das Lehren spielerisch zu erleichtern“, erklärt Rotter. Über 2000 Multiplikatoren profitierten bisher von den halbtägigen Intensivseminaren. Der Erfolg kann sich sehen lassen: 88 Prozent der Teilnehmer gaben an, mit dem Workshop, der aus den vier Modulen Improvisation, Bewegung, Regie, Sprache und Stimmbildung besteht, sehr zufrieden gewesen zu sein. Wenig oder gar nicht zufrieden war keiner. 460 von 463 Befragten lobten die sofortige Anwendbarkeit, alle nahmen neue pädagogische Ansätze für sich mit, 458 äußerten sich über die Vortragenden begeistert als hervorragende Kenner der angesprochenen Problematik.
Auch das direkte Feedback der Lehrer überzeugt: „Die erlernten Techniken helfen, unsere Arbeit aufzufrischen und unseren Unterricht freudig zu gestalten“, resümiert Teodora Manoliu in der Broschüre der NGO, „Bildungsinitiative Rumänien“. „Die Kinder nennen sie ‚Überraschungen‘ und bitten immer wieder darum.“ Manuela Dulca nutzt die gelernten Techniken, um „die Aufmerksamkeit der Kinder am Anfang des Unterrichts zu gewinnen“, aber auch währenddessen, „als ‚Energizer‘“.
2015 lobte das rumänische Bildungsministerium die Initiative in einem Bericht an die EU im „Cultural Awareness and Expression Handbook“ als „Beispiel bester Praxis“. Bestärkt durch die positiven Rückmeldungen bemüht sich die NGO nun um gemeinsame Projekte mit dem Ministerium. Erklärtes Ziel ist, Theater als Wahlfach im rumänischen Schulsystem einzuführen. Bis Ende 2019 sollen ein Lehrplan für eine Akkreditierung am Nationalen Zentrum für Lehrerausbildung sowie ein Curriculum für „Theater in Schulen“ fertiggestellt werden.
Die Wissenschaft bestätigt Effizienz
Zwei große wissenschaftliche Studien in Kooperation mit der Sigmund Freud Universität Wien und dem Zentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL) in Ulm, wo auch Prof. Spitzer wirkt, beweisen die Effizienz der Lehrmethoden, die durch das Wiener Kindertheater in über 25 Jahren (bevor das Projekt 2008 in Rumänien begann, lief es bereits seit 1994 in Wien) erarbeitet wurden. Die Studien demonstrieren signifikante Auswirkungen in den Bereichen verbale Merkfähigkeit, Körperwahrnehmung und Serienwahrnehmung, eine Vorstufe von logischem Denken. Auch ein Lehrbuch als Begleitmaterial für die Workshops ist mittlerweile in vierter Auflage erschienen: „Vorhang auf fürs Leben“ (Interessierte können es bestellen unter info@kindertheater.com).
Des Weiteren wird an einer Übersetzung von Manfred Spitzers Buch „Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen“ ins Rumänische gearbeitet. Es soll im Herbst diesen Jahres bei Humanitas erscheinen (auf Deutsch kann man es kostenlos aus dem Internet herunterladen: www.irwish.de/PDF/Spitzer/Spitzer-Digitale_Demenz.pdf). „Die Verbindung zum Theater ist, dass es darin um Kinder geht, und wie man sie vom Bildschirm wegbringt“, erklärt Dino Ebneter, Country Managing Partner der Schweizer Audit und Beratungsfirma Mazars, die Sylvia Rotters Projekte unterstützt. Diese ergänzt: „Rumänien ist ein großartiges Land und wir beide glauben an die Zukunft von Rumänien durch die Kinder und die Jugend.“
Wichtig für die Zukunft
Zukunft – das impliziert auch Nachhaltigkeit. Genau darum geht es im dritten Projekt der NGO von Sylvia Rotter: Es soll Kindern im Rahmen von Ferien in der Maramuresch beibringen, wie man mit der Natur und nicht gegen sie lebt. „Wie wenig man braucht, um glücklich zu sein mit einem minimalen ökologischen Fußabdruck“, präzisiert die Österreicherin. Das Projekt soll durch Crowdfunding finanziert werden.
Auch Finanzierung ist ein Thema, das Rotter derzeit am Herzen liegt: Für die Bildungsinitiative ist diese gesichert, als langjähriger Hauptsponsor fungiert die Banca Comercială Română (BCR). Nur das Kindertheater sucht dringend einen größeren oder mehrere kleinere Unterstützer. Essentiell – denn es ist das Schlüsselelement im Gesamtkonzept: „Ohne das Theater habe ich das Team nicht, das in der Bildungsinitiative arbeiten kann“, erklärt Rotter.
Dass dieses Herzstück buchstäblich ans Herz geht, davon konnten sich die Gäste der Botschafterin überzeugen. Die kleinen Schauspieler vermittelten Vorfreude auf das Stück, das für diese Herbstsaison vorbereitet wird: „Ein Sommer-nachtstraum“ von William Shakespeare. Dort begegnen wir Löwen und Rittern, unglücklich verliebten Paaren – und einer entzückenden „lebenden“ Steinmauer, die zitternd all den Seelenschmerz, der vor ihr ausgeschüttet wird, absorbiert und irgendwie verarbeiten muss. Schmunzeln, Tränen und Lachsalven garantiert!