Wo kommen denn all die Leute her, fragte sich ein junges Paar, das in der Menge stand, um in den Theatersaal reingelassen zu werden. Selbst hartgesottene Besucher des Internationalen Theaterfestivals in Hermannstadt/Sibiu, dessen 19. Ausgabe am vergangenen Freitag begann und das bis zum 3. Juni dauert, sind immer wieder erstaunt, dass viele Vorstellungen schon Tage vorher ausverkauft sind und sich die meisten Säle bis auf den letzten Stehplatz füllen. Während der Theaterfesttage geht eben jeder „ins Theater“, selbst wenn viele der Programmpunkte Konzerte, Tanzdarbietungen oder sonstige Spektakel sind.
Werden manche Vorstellungen gelobt, weil sie eigentlich schlecht sind, man aber dennoch Publikum haben möchte? Diese Frage stellten sich mehrere Zuschauer nach dem Vaudeville „Lautrec la Bordel!“ von Mario Moretti, das in der Regie von Horaţiu Mălăele mit bekannten Schauspielern wie George Ivaşcu und Vlad Ivanov an zwei Abenden im Thalia-Saal aufgeführt wurde. Die Vorstellung sei wegen des von Dragoş Buhagiar gezeichneten Bühnenbildes nach Hermannstadt geholt worden, munkelten Insider. Das Bühnenbild ist tatsächlich bemerkenswert. Weniger positiv waren die Meinungen über jenes, das derselbe Buhagiar für den „Sturm“ (O furtună) nach Shakespeare entworfen hat, den der Renommée-Regisseur Silviu Purcărete am Marin-Sorescu-Theater in Craiova inszeniert hat.
Die Vorstellung enttäuschte allgemein, da sie wenig Neues bot: Die sieben Gretchen aus der Hermannstädter „Faust“-Produktion wurden von fünf Ariels kopiert, Miranda spielte Sorin Leoveanu – den Mephisto hatte Ophelia Popii dargestellt – und der Hauptdarsteller Ilie Gheorghe war in dem großen Saal des Gewerkschaftskulturhauses kaum zu verstehen. Wenig überzeugen konnte auch das von Festivaldirektor Constantin Chiriac als teuerste Produktion des Festivals bezeichnete Drama „Prinz Friedrich von Homburg” von Heinrich von Kleist des Maxim-Gorki-Theaters Berlin.
Ist das Hermannstädter Theaterpublikum zu anspruchsvoll und verwöhnt? Schon möglich. Doch freut es sich jedes Mal und spricht noch Tage danach begeistert von guten Inszenierungen. Dazu gehörten heuer der „Werther“ des Schauspielhauses Graz und „Der Prozess“ des TAG Theaters Wien. Die beiden Klassiker der deutschen Epik wurden in hervorragender Dramatisierung und in modernem Bühnenbild von ausgezeichneten Schauspielern aufgeführt. Der Grazer Werther (dargestellt von Leon Ullrich) schreibt ebenfalls Briefe: auf eine Glasplatte. Dank Videokamera-Aufnahme kann der Zuschauer das Schreiben aber auch (im Spiegel) den Schreiber verfolgen. Glas und Spiegel setzt Regisseur Bastian Kraft in der Vorstellung ein, um einerseits die Kluft zwischen Werther und Lotte (Evi Kehrstephan) zu verdeutlichen und andererseits wunderschön romantische Bilder von Liebesfreud und Liebesleid auf die Bühne zu zaubern.
Nur die Technik ihrer Körper benötigten die fünf Schauspieler des Theaters aus Wien, um Franz Kafkas Roman „Der Prozess“ als spritzige Farce darzustellen. Die köstlichen, ins Surreale unserer Zeit verlegten Dialoge verfasste Gernot Plass, der auch für die Regie zeichnet. Der Prokurist Josef K. wird durchgehend von Georg Schubert gespielt, in die anderen über 20 Gestalten des Romanes verwandeln sich in rasantem Tempo Maya Henselek, Jens Claßen, Julian Loidl und Gottfried Neuner. Die Verwandlung erfolgt auf der Bühne durch wenige Änderungen am Kostüm, dafür umso mehr an Stimmlage, Sprache, Mimik und Gestik. Dass Kafka zeitgenössisch ist, war schon vorher klar, dass er so unterhaltsam sein kann, erfuhren die Zuschauer am Dienstagabend im Studio-Saal des Radu-Stanca-Theaters.
Und sonst? Beim ersten Blick auf das Programm schien, heuer werde die Qual der Wahl unter den oftmals parallel laufenden Veranstaltung erspart bleiben, der zweite Blick aber erwies diese Annahme als Trug. Also ließ ich in der ersten Festival-Halbzeit Konzerte, Pantomime, Tanz etc. sowie in mir unbekannten Sprachen gebotene Stücke links liegen und sah mir Inszenierungen von Bukarester Theaterinitiativen im Gong-Theater an. Am Montag wurde „Noi 4“ von der Compagnie „Teatrul nu e o clădire“ (Das Theater ist kein Gebäude) geboten. Das Stück hat Lia Bugnar verfasst, die auch eine der vier Gestalten darstellt. Leider versucht die Autorin, zu viel in ein Skript zu packen, was dessen Aussage verwischt. Die anfängliche Komödie um einen untreuen Mann, um die betrogene Ehefrau aber auch die betrogene Geliebte endet in unerwartet ernsten Tönen: Die vermeintlich zweite Geliebte, eine Frau, die im Kanal lebt, ist die Mutter, die der Untreue wiedergefunden hat.
Ein anderes Problem der Gesellschaft thematisiert „Jocuri în curtea din spate“ (Spiele im Hinterhof), ein Projekt von Teatru ACT und der Schauspielhochschule: die Vergewaltigung und das durchlittene Trauma der Opfer bei der Gerichtsverhandlung. Kleine, bescheidene Vorstellungen bieten oft mehr als die teuren und pompösen.