Dinge haben Anfang und Ende. Nicht so bei Eugène! „Wenn die Leute anfangen, über sich zu reden, tun sie es alle auf die gleiche Weise“, beobachtet er und reduziert seine Biografie auf zwanzig Dinge. Zwanzig prägende Stationen eines schüchternen, stotternden Jungen auf dem kurvenreichen Weg zum erfolgreichen Schriftsteller, Schauspieler und Bühnenautor. Zwanzig Dinge, die er in gut und schlecht unterteilt: Berge und Täler auf der Karte seiner Kindheit. Geht es in „Ein unfassbares Land“ etwa gar nicht um ein Land? Nicht um die alte Heimat, das kommunistische Rumänien, aus der der Fünfjährige den Eltern in die Schweiz nachreisen darf? Und auch nicht um das verwirrende neue Land; das Leben als Flüchtling, die merkwürdigen Gepflogenheiten der Schweizer, die fremde Sprache mit ihren heimtückischen Feinheiten, die die Weisheit des Wörterbuchs übersteigen?
Auf der Reise durch seine Kindheit und Jugend hält Eugène immer wieder inne, reicht uns sein Fernglas, lässt uns teilhaben an seinem ganz persönlichen, momentanen Erleben. So werden wir in zwanzig bezaubernden, amüsanten, berührenden oder melancholischen Geschichten für einen Moment lang – Eugène…
„Wer darf zuerst in die Schweiz?“ – um diese Frage geht es für die Brüder Alex und Eugène in der ersten Geschichte „Ein Kilo Tomaten“. Während sich die Großmutter durch den Dschungel der Bürokratie kämpft und geduldig auf das Ausreisevisum wartet, verfolgen die Buben eine ganz andere Strategie. Wer kennt sie nicht, die Wette mit dem Schicksal?„Wenn ich das schaffe, dann…“ Ein kostbarer Korb Tomaten, für den die Großmutter lange anstehen musste, verschwindet so auf unerklärliche Weise. Gleichzeitig wundert sich ein Straßenhund, während aufgebrachte Passanten mit empörten Blicken die Balkone des Wohnblocks absuchen. Doch keine Angst, die Geschichte findet ein unerwartet gutes Ende…
„Ja,meine Eltern haben sich in die Schweizer Autobahnparkplätze verliebt“, gesteht der inzwischen Zehnjährige im Kapitel „Ein Schuh im Land-da-oben“, „mit ihren Betonbänken, Betontischen, ihren sauberen Abfalleimern und den WCs, die nicht stinken“. Spätestens beim ersten Klassenausflug soll ihm zum Verhängnis werden, dass man sich den Bergen nicht auf Schweizer Art genähert hat – nämlich mit Bergschuhen und wetterfester Jacke, wie die Packliste von den Schülern fordert. Und was bitte ist „zwanglose Kleidung“? Nichtmal das Wörterbuch hilft da weiter! Mit blauweißen Turnschuhen quält sich der Junge durch hochgebirglichen Schlamm, bis die Peinlichkeit ihren Gipfel erreicht. Brüllend komisch, nur diesmal leider nicht für den Protagonisten…
Dass ihm die Reiselust trotzdem nicht vergangen ist, beweist er Jahre später in der Geschichte „Mein Reisenotizbuch“. Syrien, auch ein unfassbares Land, vor allem, wenn man nur 20 Worte Arabisch beherrscht – doch kein Problem für Eugène: „Als ich auf Reisen gegangen bin, habe ich angefangen, jeden Tag meine Eindrücke aufzuschreiben. Aber sehr bald wurde mir klar, dass ich mich selbst doch in- und auswendig kenne. Ich kenne meine Ängste und Befürchtungen. Ich kenne meine Hirngespinste und habe keine Lust, sie überallhin mitzunehmen. Also habe ich mir gesagt: Und wenn ich gar nichts aufschreibe, sondern jeden Tag etwas einklebe von dem, was mir an diesem Tag begegnet ist?“
Sein Reisetagebuch beschert ihm nicht nur Freude, sondern überall neue Freunde. „Ach ja, und was haben Sie eingeklebt?“, fragt Achmed interessiert, wie Dutzende andere Einheimische zuvor. „Ich lasse ihn an dem Sand vom Strand in Patara lauschen, den ich zwischen zwei Seiten gesammelt habe, deren Ränder ich zusammengeklebt habe“, sagt Eugène. Es folgt die Seite mit der Spur eines Mofareifens, die Seite mit den Kebab-und-Humus-Flecken, die Seite mit dem Brandloch von der ersten Wasserpfeife, die Seite von dem Tag, an dem er „Das Leben, Gebrauchsanweisung“ in Pergamon gelesen hatte. „Anstatt zu erzählen, was ich empfinde, wenn ich einen meiner Lieblingsromane dort lese, wo eine der berühmtesten Bibliotheken der Antike stand, habe ich die Seite herausgerissen, und sie in mein Notizbuch eingeklebt“, erzählt Eugène und bekennt: „Dieses Notizbuch, in dem ich aufs Schreiben verzichte, ist das schönste Buch, das ich jemals geschrieben habe“.
„Das zweitschönste“, protestiere ich entschieden und reiche ihm sein Fernglas zurück. Schwupps – finde ich mich wieder in meinem eigenen Leben. Ob ich recht habe, müssen Sie schon selbst herausfinden, denn mehr wird nicht verraten... Gute Fahrt, durch „Ein unfassbares Land“!