Zweifelhafte Rettung

ADZ-Reihe: Wertvolle Jugendbücher

„Die andere Anna“, Rachel von Kooij, Jungbrunnen Verlag, ausgeliehen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Bukarest, Calea Dorobanți 32/Pavilion, www.goethe.de/bukarest

In über neunzig Prozent der Fälle bleiben die Pflegekinder bei ihren Pflegeeltern... Auf diesen Satz der Sozialarbeiterin vom Jugendamt setzen Hans und Helga ihre ganze Hoffnung. Sie haben spät geheiratet, der heiß ersehnte Kindersegen blieb aus. Für eine Adoption galten sie mit Anfang 50 als viel zu alt. Doch ein leeres Nest? Undenkbar! Gibt es nicht unzählige Kinder, die keiner haben will?

Ihre Rechnung geht auf: Bald können ihr erstes Pflegekind, ein türkisches Mädchen, Tamara, adoptieren. Als ein paar Jahre später auch noch die vierjährige Anna zu ihnen stößt, scheint das Familienglück perfekt.

Anna und Tamara wissen, dass sie adoptiert sind. Die Verhältnisse, aus denen sie stammen, seien zerrüttet gewesen, die biologischen Eltern arm oder minderjährig, getrennt und völlig überfordert. Was hätte aus ihnen werden sollen, wenn sie Mammi und Papa nicht gerettet hätten?

Anna und Tamara wachsen in einer intakten Umgebung und behütet auf: eigenes Zimmer, Klavierstunden, Gymnasium, Studium – die Welt steht ihnen offen. Es stört Anna nur ein wenig, dass die Kinder in der Schule anfangs fragten, wieso sie denn „die Oma“ abholt, oder dass Kinder und Eltern verschiedene Familiennamen haben. Manchmal schwindelt sie deswegen ein bisschen...
Anna soll Schlimmes erlebt haben, bevor sie zu ihren jetzigen Eltern kam, das hatte Mammi ihr gegnüber oft genug erwähnt. Genauer wollte sie nicht werden - und eigentlich war Anna froh, dass sie sich an gar nichts vor ihrem vierten Lebensjahr erinnern konnte. Wer diese „andere Anna“ war, bevor sie zu ihrer Familie kam, würde sie wohl besser nie erfahren…

Anders Tamara: Auf die ausweichenden Antworten der Eltern reagiert sie mit Trotz, gegen die Einschränkungen beginnt die 18-Jährige zu rebellieren: Ihr habt mir gar nichts zu sagen! Ihr seid ja nicht mal meine richtigen Eltern. Anna tat ihre Mammi dann immer leid.

Anna war 14, als ihre behütete Welt plötzlich zusammenbrach. Die Eltern fahren für drei Tage weg und Tamara nimmt dies prompt zum Anlass, die verschlossene Lade mit den Adoptionsunterlagen heimlich aufbrechen zu lassen. Nur, dass ihre Rechnung, die kleine Schwester mit Kinokarten davon fernzuhalten, nicht aufging. Weil Annas Freundin keine Zeit hatte, kam sie zu früh nach Hause...

Zeuge einer erschreckenden Szene geworden, beginnt Anna, ihrer älteren Schwester nachzuspionieren. Was bedeutete der Fahrplan nach Wien? In dem Wunsch, Tamara heimlich zu beschützen, gerät Anna selbst in den Strudel der Ereignisse - und erfährt mehr über die Hintergründe ihrer eigenen Adoption. Da gibt es viele offene Fragen, die ihr keine Ruhe lassen. Wer zum Beispiel ist die junge Frau auf dem Bild, die die kleine Anna so liebevoll in die Höhe wirft? Wer war diese „andere Anna“? Und warum kann sie sich an keines der „schrecklichen Dinge“ erinnern, die ihre Mammi erwähnt hat?

Beide Mädchen kommen ihrem Schicksal letztlich auf die Spur. Tamara muss nach einem Besuch bei ihrer Mutter erkennen, dass die Pflegefamilie für sie tatsächlich ein „Glücksfall“ war, die leibliche Schwester dient als lebhaftes Beispiel, was aus ihr dort geworden wäre - doch die Erkenntnis ist bitter. Auch Anna ist geschockt, als sich langsam die Puzzlesteinchen über den wahren Ablauf ihrer Adoption zusammenfügen.  Das Schlimmste daran aber ist, dass es da etwas gibt, was Anna ihrer Mammi nicht verzeihen kann...

Die Geschichte von Anna und Tamara ist frei erfunden, hätte sich aber genauso zutragen können. Auf einem Seminar der Jugendwohlfahrt hatte Autorin Rachel von Kooij erfahren, dass es neben den Fällen, in denen Kindesmissbrauch nicht erkannt wird und Kinder dadurch manchmal zu Tode kommen, eine ganze Reihe anderer Fälle gibt, in denen sich die Maßnahmen zur Kindesabnahme im Nachhinein als völlig falsch und überzogen herausstellen. Die um ihr Kind betrogenen Mütter kämpfen oft jahrelang vor Gericht um die Rückeingliederung. Dabei wird nach „Kindeswohl“ entschieden, also danach, ob man dies für das Kind als zumutbar erachtet. Und selbst wenn sich Mutter und Kind jemals wiedersehen, ist die entstandene Kluft nicht mehr zu kitten. Ein Gänsehaut-Leseerlebnis!


Die monatliche ADZ-Reihe „Wertvolle Jugendbücher möchte Kinder und Jugendliche zum Lesen in deutscher Sprache anregen. Die Bücher sind in den deutschsprachigen Bibliotheken des Goethe-Instituts auszuleihen.