Vom 24. bis 26. November fand an der Lucian-Blaga-Universität in Hermannstadt/Sibiu eine internationale Tagung statt, die von der Hermannstädter Germanistik veranstaltet wurde und an der zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland, Österreich und Rumänien teilnahmen. Das Rahmenthema der Tagung „Zwischen Fakten und Deutung“ gab dabei nicht nur literaturwissenschaftlichen und linguistischen Fragestellungen Raum, bei denen es ohnehin um die Interpretation literarischer Fakten und um die Deutung sprachlicher Phänomene geht. Vielmehr gerieten darüber hinaus auch kulturgeschichtliche Tatsachen und landeskundliche bzw. länderkundliche Realitäten in den Blick, die interessante interkulturelle Vergleiche und pluriperspektivische Diskussionen ermöglichten.
Die Eröffnungssitzung der Tagung fand im Lucian-Blaga-Saal des Rektoratsgebäudes der Universität statt. Nach einer kurzen Begrüßung durch die Initiatorin der Tagung, die Hermannstädter Germanistikprofessorin Maria Sass, die auch die Moderation des Eröffnungsplenums übernommen hatte, ergriff Prorektor Prof. Dr. Claudiu Kifor das Wort und hieß die Tagungsteilnehmer seitens der Lucian-Blaga-Universität herzlich willkommen.
Der Dekan der Fakultät für Philologie und Bühnenkünste, Prof. Dr. Andrei Terian, lobte in seiner darauf folgenden Ansprache die internationalen Aktivitäten der Hermannstädter Germanistik und der Direktor der Abteilung für angloamerikanische und germanische Studien, Dr. Ovidiu Matiu, schloss sich dem Lob seines Dekans an und hob die hohe wissenschaftliche Qualität sowie die großen Leistungen der Hermannstädter Germanistinnen und Germanisten in Lehre und Forschung hervor. Die Deutsche Konsulin in Hermannstadt, Frau Judith Urban, war leider an der Teilnahme verhindert, aber das Konsulat der Bundesrepublik Deutschland in Hermannstadt war in gewisser Weise dennoch auf der Tagung vertreten, nämlich als deren Sponsor, neben anderen Förderern wie der Gesellschaft der Germanisten Rumäniens, dem Deutschen Wirtschaftsklub Siebenbürgen und der in Hermannstadt einen Standort unterhaltenden Firma CEPROCS.
Im Anschluss daran wurde in festlicher Atmosphäre im Lucian-Blaga-Saal des Rektoratsgebäudes der Universität der wissenschaftliche Teil der Tagung eröffnet. Im Mittelpunkt dieser feierlichen Plenumssitzung stand die Würdigung einer Hermannstädter Persönlichkeit, deren Geburtstag sich in wenigen Wochen zum hundertsten Male jährt: des aus Kronstadt gebürtigen und lange Jahre an der Universität in Hermannstadt als germanistischer Hochschullehrer tätigen Schriftstellers Georg Scherg (1917-2002). Joachim Wittstock (Hermannstadt) gab einen umfassenden und anschaulichen Überblick über Leben, Werk und Wirkung des bedeutenden Schriftstellers, Literaturprofessors und – wie der Laudator selbst – Ehrendoktors der Hermannstädter Universität, der sich in besonderem Maße schreibend und forschend um die Literatur der Siebenbürger Sachsen verdient gemacht hat.
Zahlreiche Fotos illustrierten ein bewegtes und bewegendes Leben, das Höhen und Tiefen kannte, etwa die Verurteilung beim Kronstädter Schriftstellerprozess 1959 und die neun Jahre später erfolgte Rehabilitierung durch das Oberste Gericht Rumäniens. Die Romane Georg Schergs wurden vorgestellt, seine Gedichtbände präsentiert, seine Übersetzungen aus der rumänischen Literatur (Eminescu, Caraion, Ivasiuc, Breban) und Philosophie (Noica) dem Publikum nahe gebracht, und Joachim Wittstock, der den von ihm Gewürdigten persönlich sehr gut kannte, schilderte ihn zudem als loyalen und kameradschaftlichen Menschen. Der Kongress fand seine Fortsetzung im Hermannstädter Konferenzzentrum „Centrul de Reuniune Academică“, wo die Tagungsarbeit in den beiden Sektionen „Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte“ bzw. „Sprachwissenschaft, Landeskunde und Deutsch als Fremdsprache (DaF)“ fortgeführt wurde.
Roxana Nubert (Temeswar) hielt in der literaturwissenschaftlichen Sektion einen lehrreichen und anschaulichen Vortrag über die Aktionsgruppe Banat, Delia E{ian (Jassy) stellte Überlegungen zum Motiv des Affen in der Literatur an, wobei sie unter anderen auf Werke von Georg Büchner, E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Hauff, Franz Kafka, Paul Celan und Edgar Allan Poe zu sprechen kam, während Maria Sass (Hermannstadt) Erwin Wittstocks Roman „Januar ’45 oder Die höhere Pflicht“ literaturwissenschaftlich analysierte. Parallel und zeitgleich dazu referierten in der linguistischen Sektion der Tagung die in Hermannstadt tätigen Wissenschaftlerinnen Sigrid Haldenwang (über ausgewählte Wörter im Siebenbürgisch-Sächsischen), Doris Sava (über modifizierte sprachliche Routinen) und Cristina Mihail (über die Problematik der Textsorten aus interkultureller und interdisziplinärer Perspektive) sowie die Jassyer Germanistin Casia Zaharia, die einen Vortrag mit dem Titel „Zeit ist Geld“ hielt.
In den Sektionssitzungen am Nachmittag des 25. November waren interessante Vorträge über deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu hören: Grazziella Predoiu (Temeswar) stellte den Roman „Die Erdfresserin“ von Julya Rabinowich vor, indem sie vor allem auf dessen interkulturelle Dimension einging, während Delia Cotârlea (Kronstadt) über „Faktiziät und Fiktionalität in Texten Carmen Elisabeth Puchianus“ sprach. Cezara Humă (Jassy) hielt einen Vortrag zum Thema „Die Topoi der Minnegrotte in Gottfried von Straßburgs ‘Tristan’ und ihre Rezeption am Beispiel des Mythos von Euthanasius’ Insel in Mihai Eminescus ‘Cezara’“, während ihre Jassyer Kollegin Ana Danculesei ebenfalls über ein komparatistisches Thema vortrug, nämlich über Heimatliteratur und Sämänätorismus („Sămănătorismul“) im interkulturellen Vergleich. Adriana Dănilă (Bukarest) beschäftigte sich mit der gewalttätigen Sprache der Entlarvung des politischen Klassenfeindes in der rumäniendeutschen Presse der 1950er Jahre und Adina-Lucia Nistor (Jassy) stellte ihre Forschungen zum rumänischen Familiennamen Aleman als einen Zeugen der deutschen Kolonisation in Siebenbürgen vor. Am letzten Kongresstag trugen in der Sektion „Sprachwissenschaft, Landeskunde und DaF“ die Bukarester Germanistinnen Ana Karlstedt („Literatur als erlebbare Landeskunde. Didaktische Überlegungen zu Jan Koneffkes ‘Die sieben Leben des Felix Kammacher’“), Alexandra Nicolaescu („DACH-Landeskunde – Von der Theorie zur Praxis“) und Ana-Maria Neacşu („Semantische Analyse der Social-Media-Posts hinsichtlich der deutschen Nationalmannschaft“) sowie die Kronstädter Germanistin Ioana-Andreea Diaconu („Curriculare Überlegungen zum Sprachunterricht in der Kronstädter Germanistik“) vor.
In der parallel dazu abgehaltenen Sektion „Literaturwissenschaft und Kulturgeschichte“ kamen zunächst zwei Hermannstädter Germanistinnen mit Themen zu Wort, die sich auf die politische Geschichte Rumäniens während der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bezogen, genauer gesagt, auf die Inhaftierung politischer Gegner und ihre Verurteilung in stalinistischen Schauprozessen: Sunhild Galter sprach über Erwin Neustädter und seinen posthum erschienenen Erlebnisbericht „Der Mensch in der Zelle“, während Marcela Ivan über Andreas Birkner und den Kronstädter Schriftstellerprozess 1959 referierte, wobei sie auf ihre ausführlichen Recherchen in den Aktenbeständen des Nationalen Rats für das Studium der Archive der Securitate (CNSAS) zurückgreifen konnte. Zwei Vorträge mit kulturgeschichtlichen Themen schlossen die lehr- und diskussionsreiche Hermannstädter Germanistiktagung ab: Manuel Stübecke (Münster) sprach über den Exorzismus in der Evangelischen Kirche und Gerhild Rudolf (Hermannstadt) referierte über das jährlich jeweils am 11. November begangene Martinsfest und die damit in Zusammenhang stehenden Bräuche, speziell im Hinblick auf die Feier des Laternen- und Martinsfestes an deutschen Schulen in Rumänien.