Hermannstadt – Ende März 2023 werden sich neunzig Jahre seit der Geburt des Mitte Dezember 1983 verstorbenen Lyrikers Nichita Stănescu erfüllen. Im siebenbürgischen Hermannstadt/Sibiu, das sich kulturgeschichtlich gerne als Alternative zu der Binnenpolitik aus Bukarest verstanden wissen möchte, dürfte das Erinnern an den aus Ploiești stammenden Dichter, der in nationalkommunistischer Zeit eine stolze Karriere hinlegte, vergleichsweise spürbar weniger lautstark als südlich und östlich der Karpaten ausfallen. Alexandru Chituță aus der Hafenstadt Tulcea und Alumnus der nach Andrei Șaguna benannten Fakultät für Orthodoxe Theologie an der Lucian-Blaga-Universität Hermannstadt, weiß aus Bildungserfahrung von der schon immer eigenen Kulturtradition Siebenbürgens natürlich genau Bescheid. Dennoch oder vielleicht genau deshalb hat er als promovierter Chefreferent des Brukenthalmuseums für Bildung, Vertrieb, Öffentlichkeitsarbeit und Sekretariat am Freitag, dem 1. April, in der Abteilung für Zeitgenössische Kunst eine literarisch, musikalisch und zugleich künstlerisch bildende Feierstunde zur Hommage an Nichita Stănescu inszenieren lassen. Sie lief wie am Schnürchen.
Mit Star-Geiger Alexandru Tomescu als Spieler der Stradivari aus dem Staatsbesitz Rumäniens, die vormals Interpret Ion Voicu mit seinen begnadeten Händen zum Klingen brachte, war bereits der Auftakt zu der an Nichita St˛nescu orientierten Veranstaltung in der Abteilung des Bruken-thalmuseums für Zeitgenössische Kunst in der Quergasse/Tribunei edel besetzt. Das stupend optimistisch polyphone „Preludio“ aus der Partita Nr. 3 in E-Dur BWV 1006 für Violine solo von Johann Sebastian Bach, ergänzt durch das deftig gestrichene Charakterstück „Ménétrier“ (französisch; rumänisch ´lăutar´, deutsch ´Fiedler´) aus den „Impressions d´enfance“ Op. 28. von George Enescu, nahmen voraus, worum es hier eigentlich ging – die wirkliche Nachricht der Texte von Nichita St˛nescu erschließt sich erst mit einem Um-die-Ecke-Denken, in dessen Fänge man sich freiwillig werfen muss. Die Holzschnitte aus der Hand von Mircia Dumitrescu aus Bukarest sind mit eben jenem Wahrnehmungsfilter zu sehen, den er selbst beim Betrachten der Welt rings um sich auch anwendet: dem heute achtzig Jahre alten Bildhauer, ehemals engen Freund von Nichita Stănescu und sozialistisch werbenden Artisten aus der Hauptstadt Rumäniens widerstrebt „eine westliche Kultur, die uns wie eine Guillotine durchfährt“ zutiefst. „´Modern´ kommt vom lateinischen ´modus´, der Vokabel für den ´Maßstab´. Und wir haben den Sinn für das gesunde Maß eingebüßt“, bemerkte Mircia Dumitrescu ganz ohne Lust zum Scherzen am ersten Aprilabend in Hermannstadt.
Liebend gerne schwärmt er für das „Suchen nach Existenzmodellen im wahrsten Sinne des Wortes“. Schauspielerin Mariana Mihu-Plier vom Radu-Stanca-Theater Hermannstadt (TNRS) als Leserin einiger Gedichte von Nichita Stănescu drang beispielhaft interpretierend in die poetischen Tiefen des modernen Rumänien vor. Und all das vor einem zigfach besetzten Publikum neugieriger Menschen, dem sich auch Rechtsanwalt und Kunstsammler George Șerban aus Bukarest, Virgil Ștefan Nițulescu vom Nationalen Bauernmuseum Bukarest, Alexandru Gavrilaș vom Museumskomplex des Kreises Bistritz, Radu Popica vom Kunstmuseum Kron-stadt/Bra{ov, Robert Strebeli vom Kunstmuseum Baia Mare und Anca Rusu vom Museum des Oașer Landes einreihten.
Eines von insgesamt nur elf Exemplaren jenes 1982 in Eigendruck veröffentlichten Buches von Mircia Dumitrescu, das aufgeschlagen vier Meter Länge bei 30 Zentimeter Breite misst und Gedichte von Nichita St˛nescu mit Holzschnitten kombiniert, geht auf Wunsch des bildenden Künstlers, der 2021 erstmals auch in Hermannstadt ausgestellt hat, als Schenkung in das Brukenthalmuseums-Inventar über. Somit hat die Ausstellung „Nichita azi“ beste Chancen, auch in Hermannstadt bleibend nachverfolgbare und lohnende Spuren zu hinterlassen. Der „Dekalog“, den Stănescu seinem guten Freund Dumitrescu widmete, deutet irgendwo etwas Orientierung für ein Denken um die Ecke an. „Bringe dich selbst nicht um das Reale im Realen“, warnt im 1982 gedruckten Großbuch das Zweite Gebot des „Dekalogs“. „Belüge deine Augen nicht mit einfachem Blick“, schickt ihm in freier Übersetzung in die deutsche Sprache das Erste Gebot voraus.