Schneewittchen würde sicherlich nicht gerne in unserer Welt leben, wenn es jeden Tag um sieben Uhr („diese kriminelle Zeit“) aufstehen und in die Schule gehen müsste – da ist sich der zehnjährige Mike (Vladimir Socolovici) sicher. Doch als er durch einen Zauber mitten in der Märchenwelt landet, merkt er, dass auch hier nicht alles rosig ist: Rotkäppchen feuert den Wolf, weil der seinen Pflichten nicht nachgeht, Hänsel und Gretel liegen sich andauernd in den Haaren und die sieben Zwerge sind längst abgehauen. Und das alles nur, weil die Menschenkinder keine Märchen mehr lesen!
„Das Leben als Märchen“, ein Theaterstück von Sânziana Popescu, bildete den Auftakt des diesjährigen „Langen NiL-Theatertages“ des Nikolaus-Lenau-Lyzeums und kann als kleines Manifest des Theaters verstanden werden. Denn der verzauberte Mike merkt eines schnell: Ohne Märchen geht es nicht. Und nur weil man Aschenputtel und Co. nicht die Hand schütteln kann, heißt es nicht, dass sie nicht existieren. Man könnte auch sagen: Liebe Kinder und Jugendliche, bitte gebt der Literatur und dem Theater eine Chance, dann werdet ihr eine Überraschung erleben. Und das durften dann auch die Erwachsenen unter den Zuschauern.
34 Kinder und Jugendliche, fünf Schauspiele, drei Theatergruppen, ein Nachmittag: Das war der „Lange NiL-Theatertag“ 2016. 20 Jahre Schauspiel kann NiL in diesem Jahr feiern. Was mit einer Theatertruppe begann, sind heute drei Gruppen verschiedener Altersstufen. Jeder darf mitmachen – vorausgesetzt, er bringt die nötige Motivation für zeitintensive Proben auf. „Das Theater ist mir das Liebste auf der Welt. Und deshalb will ich es auch richtig machen oder gar nicht. Ich weiß, dass ich den Kindern viel zumute“, sagt Isolde Cobeţ, langjährige Leiterin der Theatergruppe. Jede Woche proben die jun1gen Schauspieler, vor den Aufführungen auch mehrmals und am Wochenende. Eine Herausforderung, die sich lohnt, findet Raina Bo{niac, die junge Schauspielerin, die Gretel spielt: „Das Theaterspielen ist mein Hobby, es ist schön. Und die deutschen Texte kann ich leicht auswendig lernen“. Auch ihr „Bruder“ Hänsel, Luca Dragu, genießt das Spielen. „Ich liebe die Atmosphäre im Theater, den Applaus, sogar den Geruch. Und das Adrenalin vor einer Aufführung“, sagt der Siebtklässler.
Die Theaterstücke werden alle per Kopfhörer oder Untertitel ins Rumänische übertragen, doch gespielt wird auf Deutsch. „Das deutsche Theater hat ein gewisses Etwas, eine Eigenartigkeit, die sich auch in der Sprache ausdrückt“, sagt die Germanistin und Theaterpädagogin Cobeţ. Sie findet es wichtig, noch immer deutsches Theater zu spielen, obwohl die meisten Banater Schwaben längst nicht mehr in Temeswar wohnen. Deutsches Theater sieht sie auch als Bereicherung der rumänischen Kulturlandschaft. Und es öffnet den Schülerinnen und Schülern des Nikolaus-Lenau-Lyzeums im wahrsten Sinne des Wortes „spielend“ eine Tür zur deutschen Sprache.
Für Dominique Heidenfelder und Alexandra Nesici ist das Theaterspielen mehr als ein normales Hobby. „Das Theater ist der Ort, an dem ich alles sein kann, was ich bin und was ich nicht bin. Es ist eine Möglichkeit, sich selbst zu finden“, sagen die beiden Elftklässlerinnen.
Anlässlich der zwei Jahrzehnte NiL präsentierten die jungen Schauspieler am Ende des Tages ihre Hymne „Im NiL-Theater ist was los“, eine Adaption von Georg Kreislers „Im Theater ist nichts los“. Alexandras Lieblingszeile: „Die Lügen auf der Bühne sind die Wahrheit“. Am Ende des Abends sind sich alle einig: Ohne Theater geht es eben nicht.